Ilse Helbich, Schmelzungen

Ilse Helbich, Schmelzungen

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Die neunzigjährige Ilse Helbich, die erst mit achtzig Jahren ihren ersten Roman geschrieben hat, legt mit diesem Band eine „Chronik des Abschieds“ vor, in der sie beschreibt,
wie sie sich von Sprosse zu Sprosse hinabgleitend, in einer sich verändernden Situation immer von Neuem zurechtfinden muss. Heute ist es das Krampfen der Beine, gestern war es das sich Stoßen an den zu Hindernissen verwandelten altvertrauten Möbeln.
Morgen wird ihr wieder etwas anderes geschehen. Als laufe da ein Prozess ab, physikalisch oder chemisch, in dem ihr altes Ich allmählich zu schmelzen scheint.“

Doch keine Sorge, ist ist kein Mitleid erheischendes Gejammerere über das Älterwerden bzw. Altsein, wohl aber eine Chronik über die verschiedenen Veränderungen, die sich auf allen Ebenen ihres Lebens, in allen Bereichen ihres Alltags bemerkbar machen. So entsteht eine faszinierede Darstellung ihrer Gedanken über diese Veränderungen und ihren Umgang damit:

„Sie sitzt, hie und da fährt ein Auto vorbei, ihr ist, als wären sie alle sehr rasch, wie gehetzt auf ihren Wegen, wahrscheinlich jedoch ist sie es selbst, die aus der aufgetragenen Lebensgeschwindigkeit herausgefallen ist, hinein in eine andere Art von Dasein, eine des Schauens, eine des Atmens, …“

Sie schaut, atmet, erinnert sich, nach einem Besuch in Dresden auch an den Krieg, an Auschwitz und an den Umgang damit nach dem Krieg, das Schweigen darüber, die Veränderungen im Schweigen.
„Es genügt, auf der Gartenbank zu rasten und den weißen Wolken zuzusehen.
Dann denke ich, ich bin eine Lügnerin, wenn ich mich an die Tragik dieses Lebens erinnere, an auswegloses Leiden, das das Bewusstsein tötet, an die Schluchten der Verzweiflung, aus denen die Seele keinen Ausweg findet.“

Doch trotz all der nicht zu übersehenden Einschränkungen erlebt sie zunehmend mehr Glücksmomente, wenn sie auf ihrer geliebten Gartenbank sitzt, auf der ihr neue Gedanken kommen, ein anderer Blick auf ihr Leben möglich ist, etwa, wenn sie ihre Beziehungen zu Menschen bedenkt:
„Ein anderes Gefühl für die Menschen, nächste und gerade gesehene, kündigt sich an: Ich sehe sie jetzt nicht in ihrer Beziehung zu mir, messe sie nicht mit meinen Maßstäben, ich erkenne sie gleichsam von ihren eigenen Wurzeln her, in ihrer je eigenen Besonderheit. Ich bin eben nicht mehr Mitspielerin.“

Ihr Leben wird zunehmend „einfacher oder ein-fältiger“, aber nicht ärmer. In hellen „Sekundenträumen“ wird für sie in ihrer Welt das „Andere“, nicht weiter zu Benennende, transparent. Es entsteht eine neue Offenheit, Bereitschaft, sich dieser anderen Welt zu öffnen, sie in den eignen Alltag zu lassen, für die Autorin eine auch körperliche Erfahrung:

„Ich weiß nicht, ob ich deses Andere überhaupt ansprechen will. Es genügt vielmehr, sich in seine Anwesenheit hineinzubegeben, und wenn ich später mit den Tagesläufen mitschwinge, glaube ich zu wissen, dass ich noch immer in dieser Offenheit bin.
Starkes Körpergefühl im Bauchraum, nachdem ich das geschrieben habe: eine helle Wärme, die lange bleibt.“

Für mich ist es ein lesenswertes, Mut machendes Buch, weil es neben den körperlichen Veränderungen im Alter, die unwidersprochen starke Einschränkungen bedeuten, auch sichtbar wird, dass sich dann andere Möglichkeiten der Wahrnehmung ergeben, andere Apekte von Welt deutlich werden, wenn man den Mut hat, hinzusehen, wahrzunehmen, mit offenen Fragen zu leben und vielleicht dennoch nicht aufzuhören, nach eigenen Antworten zu suchen:

„Ich bin aus der Welt geglitten. Nein, ich bewohne sie auf neue Weise. Vielleicht ist diese altersbedingte Wandlung nur der neue Zugang zu einer Ur-Erfahrung.“

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Ich bin froh, dass Ilse Helbich dieses Buch noch in ihrer so klaren Sprache schreiben konnte, und wünsche diesem Büchlein gerne viele, nicht nur ältere LeserInnen. Es bietet – aus verschiedenen Perspektiven – geschriebene, gut lesbare Lebenseinsichten, die kennenzulernen sich lohnen könnten.

Ilse Helbich, Schmelzungen, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2015, 135 S., ISBN 978-3-85420-964-5

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