Michael Winterhoff, Mythos Überforderung

Michael Winterhoff, Mythos Überforderung

Kennen Sie jemanden, der nicht stressgeplagt ist, in welcher Form auch immer?

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Alle „sind überlastet, erschöpft und fertig, weil unser Umfeld es von uns verlangt. Wir können uns nicht in Ruhe auf eine Aufgabe konzentrieren (Spagat zwischen Job und Familie), sondern müssen auf vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzen (Multitasking), uns werden keine Ruhephasen mehr zugestanden (ständige Erreichbarkeit), und all das sollen wir auch noch unter ernormem Zeitdruck bewältigen (ewige Hetze) … Man treibt uns in die Überforderung, also geht es uns schlecht.“

Winterhoff, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, bezeichnet dieses „universale Erklärungsmodell“ als „Überforderungs-Mythos“. Seiner Ansicht nach lenkt dieser Mythos vom eigentlichen Problem ab. Er behauptet: „Das Problem sind nicht die anderen – das Problem liegt in uns selbst.

Es geht nicht um die Frage: Was kann ich denn dafür? die Menschen gern stellen, die sich als Opfer der Verhältnisse sehen, sondern sie müsste lauten: Was kann ich dafür tun? Denn nur dann übernehme ich Verantwortung, suche nach Lösungsmöglichkeiten und alternativen Handlungsoptionen. Oft muss man dann ehrlicherweise nicht mehr sagen: „Ich musste so handeln. Sondern: Ich wollte es so.“ Dann trage ich auch bewusst die Konsequenzen, die sich aus meinen Entscheidungen, meinen Handlungen ergeben und muss mich dann nicht als Opfer der Verhältnisse fühlen, handle also eigenverantwortlich, erwachsen eben.

In vielen Beispielen aus seiner Praxis macht Winterhoff deutlich, was wir selbst zu unserem Dauerstress beitragen, wohin das in einzelnen Familien, letztendlich aber auch in unserer Gesellschaft führt. Dazu gehört auch, dass viele Eltern ihren Kindern unbedingt eine „schöne“ Kindheit erschaffen wollen, sich und ihre Kinder oftmals damit überfordern und sie paradoxerweise gleichzeitig unterfordern, weil Kinder oft Entscheidungen treffen sollen, die sie noch nicht treffen können, aber die, die sie treffen können, oft nicht treffen dürfen bzw. ihnen die Folgen ihrer Handlungen nicht zugemutet werden.

Doch Kinder von allem Fernhalten bringt sie nicht zur Entwicklung, lässt sie eben nicht erwachsen werden und eigenverantwortlich handeln, weil ihnen oft nicht zugemutet wird auszuhalten, dass nicht alles jederzeit zur Verfügung steht, dass man für vieles Geduld und Ausdauer braucht und man häufig Anstrengungen auf sich nehmen muss, um Ziele zu erreichen.

Ein lesenswertes, flott und verständlich geschriebenes Buch, nicht nur für Eltern, sondern für alle die, die mit Menschen zu tun haben. Man kann es mit viel Vergnügen auch nur für sich allein lesen und sich dahingehend überprüfen, inwieweit wir uns erwachsen verhalten.

Michael Winterhoff, Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, 255 S., ISBN 978-3-579-06620-2

2 Gedanken zu „Michael Winterhoff, Mythos Überforderung

  1. Klingt nach einem spannenden Buch! Habe mich schon oft gefragt, warum die Leute früher (angeblich?!) weniger gestresst waren. Aber vielleicht haben wir das selbst mit uns machen lassen bzw., im aktiv, machen das einfach mit!
    Habe gute Erfahrungen mit dem Autor. Vielleicht ist das ein Buch für mich.
    Danke für diesen Hinweis!

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