Jorge Semprun, Die große Reise

Jorge Semprun, Die große Reise

„Die große Reise“ erzählt von dem fünftägigen Eisenbahntransport des Ich-Erzählers ins Konzentrationslager Buchenwald, wobei die Insassen dieses Zuges, somit auch der Erzähler nicht wissen, die Reise geht. Bahnhofsnamen, vage Landschafskenntnisse, Gerüchte über Lager etc. lassen aber nach und nach erahnen, wohin die Reise geht.

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Die Erinnerung des Erzählers an die Reise ist so vollkommen, „daß, wenn ich anfinge, diese Reise in all ihren Einzelheiten zu erzählen, die Leute um mich herum, die mir anfänglich gern, wenn auch nur aus Höflichkeit, ihre Aufmerksamkeit geschenkt hätten, vor Langeweile vergehen, sterben, sachte in ihren Sitzen zusammensinken und in den Tod wie in den träge fließenden Strom meiner Erzählungen sinken würden oder aber in rasenden Wahnsinn verfielen, wenn sie den sanften Schrecken all der Einzelheiten und Geschehnisse, all des Hin und Her dieser langen Reise vor sechzehn Jahren nicht mehr ertrügen.“

Eingeschoben sind daher oft unvermittelt einsetzende Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, Erinnerungen Phantasien, Träume, philisophische Überlegungen, die Zeit im Widerstand, aber auch Geschehnisse, die sich erst später im Lager und in der Zeit nach der Befreiung ereignen werden.

Das Ergebnis ist ein sprachlich unglaublich intensiver Roman, der einen biografischer Überblick über Sempruns Leben bis nach der Befreiung aus dem KZ Buchenwald vermittelt, der nicht nur die äußeren Ereignisse zur Sprache bringt, sondern auch Reflektionen über das Leben allgemein, z.B. über „Freiheit“:

„Ich bin gefangen, weil ich ein freier Mensch bin, weil ich mich gezwungen sah, meine Freiheit zu leben, weil ich diesen Zwang auf mich genommen habe. Und ebenso gibt es nur eine einzige Antwort auf die zweite Frage: ‚Warum sind Sie hier?‘, die ich an jenem Oktobertag dem deutschen Wachtposten gestellt habe … Er ist hier, weil er nirgends sonst ist, weil er nicht die Notwendigkeit empfunden hat, anderswo zu sein. Weil er nicht frei ist.“

Diese Gedanken weisen über die damalige Zeit hinaus und könnten den heutigen Leser nötigen, seine Position zu überdenken, sich klar zu machen, auf welcher Seite er denn steht:

„Da stehen wir, jeder auf seiner Seite des Gitters, und nie vorher habe ich so genau gewußt, wofür ich kämpfte. Es mußte wohnlich gemacht werden, das Sein dieses Menschen oder vielmehr das Sein der anderen Menschen gleich ihm, denn für ihn selbst war es sicher zu spät. … Das heißt, ich stand auf meiner Seite, er wußte nicht, auf welcher Seite er stand.“

Es ist eines der intensivsten, nachhaltigsten Bücher über diese Zeit, die ich gelesen habe. In jeder Hinsicht herausragend!

Jorge Semprun, Die große Reise, Roman, Reinbek b. Hamburg, 18. Auflage 2015, 239 S., ISBN 978-3-518-37244-9

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