André Heller, Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

André Heller, Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

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„Zuerst starb der Papst.“

So beginnt André Hellers Erzählung mit autobiografischen Zügen. Mitteilenswert für ein Kind? Ja, wenn es in Attweg, einem von Jesuiten geleiteten Internat, aufwachsen muss, dann schon. Bereits die ersten Zeilen machen deutlich, welch eigen-sinnigen Blick der Ich-Erzähler auf die Geschehnisse um ihn herum hat:

„Einige Mitschüler waren klug genug zu weinen. Sie erhielten nach der Trauerveranstaltung von der Schwester Immaculata als Anerkennung ein Stollwerck-Bonbon.“

Er merkt daher auch sehr schnell, dass Geschehnisse, Anweisungen etc. nicht unbedingt den Gesetzen der Logik oder anderen nachvollziehbaren Werten unterliegen.

„‚Selbst der Himmel weint.‘ Das verstand ich nicht, denn schließlich war ja der gute und gütige Heilige Vater in den Himmel übersiedelt, und der hätte sich doch darüber freuen müssen. Das Unlogische ist eine Grundlage des Römisch-Katholischen, dachte ich mir.“

Das Kind fühlt sich im Internat alleingelassen, eingesperrt, nicht akzeptiert und muss dennoch dort leben, überleben. Und es entdeckt, was ihm immer und überall zur Verfügung steht: seine Augen, Ohren und seine Fantasie.

Mein dringlichster Wunsch in Attweg lautete: auf und davon. Augen und Ohren dienten als Ausbruchswerkzeuge. … Man kann einen Menschen einsperren, aber solange man ihm einen Ausblick lässt, klettert das Schauen auf Gebäude und Berge, überquert Brücken und Mauern oder reist von der Milchstraße zum Kleinen Bären.“

Und dann wird der plötzliche Tod des Vaters zur Möglichkeit, dem verhassten äußeren Gefängnis in Attweg zu entrinnen, aber auch der Herrschaft des Vater und dem ihm angedrohten Vormund in der Gestalt eines seiner Onkel. Denn der Ich-Erzähler erkennt, wie schwach seine Mutter unter der Fuchtel seines Vaters geworden ist, für ihn eine Möglichkeit, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen:

„‚Aber wen soll ich denn jetzt fragen, ob es richtig ist? Deinen Bruder vielleicht, der im Ausland lebt?‘ ‚Mich‘, antwortete ich, ‚frag jetzt immer mich.‘ ‚Du bist ein merkwürdiges Kind‘, sagte sie. ‚Ja, Mutter, ich weiß es, ich bin ein merkwürdiges Kind.‘ „

Die Erzählung ist eine amüsant geschriebene, genau beobachtete Studie der Menschen in seiner Umgebung, ihrer Verloren- und Verlogenheit, und der Welt des kleinen Kindes, das sich einem Vater ausgesetzt sieht, der mit seinen Kriegstraumata nicht zurecht gekommen ist:

Die Kriege machen das. Wenn du in ihnen bist, sind sie auch bald in dir. Uns wenn sie außen endlich erlöschen,brennen sie in dir weiter, und immer und überall gehörst du wie sie zur Hölle.“

Das Kind in André Hellers Erzählung verschafft sich mit seiner Fantasie, seiner genauen Beobachtungsgabe und einer gehörigen Portion Mut und Selbstbewusstsein seinen Weg in das eigene Leben und ermutigt damit indirekt, nämlich ohne pädagogischen Impetus, nach dem Eigenen zu suchen, seinen die Hindernisse auch noch so groß. Absolut lesenswert!

André Heller, Wie ich lernte, bei mir Kind zu sein, Eine Erzählung, Frankfurt/M. 2011, 138 S., ISBN 978-3-596-18189-6

4 Gedanken zu „André Heller, Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

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