Marguerite Duras, Der Schmerz

Marguerite Duras, Der Schmerz

Manchmal entdecke ich in meinen Bücherregalen dort schon lange schlummernde Kostbarkeiten. Sie warten geduldig auf mich, bis die Zeit reif ist, nach ihnen zu greifen und sie zu lesen.

Seit 1994 wartet auf mich Marguerite Duras „Der Schmerz“ auf mich. Ich weiß es so genau, da ich zu der Zeit noch meinen Namen in Bücher geschrieben habe, sowie den Monat und das Jahr, in dem ich die Bücher gekauft habe. Das mache ich heute nicht mehr, da ich mittlerweile Bücher nach der Lektüre auch weggebe. Warum ich es damals gekauft habe? Keine Ahnung, vielleicht ein Tipp von jemandem, was weiß ich.

„Der Schmerz“ ist autobiografisch und glaubt man den einleitenden Worten der Autorin, so basiert er auf Tagebuchaufzeichnungen, die in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges entstanden sind, als sie auf ihren nach Auschwitz deportierten Mann, Robert L. wartet, von dem sie allerdings nur weiß, dass er deportiert worden ist, nicht wohin und auch nicht, ob das Lager, in dem er sich befindet, von den Alliierten bereits befreit worden ist.

Sie beschreibt ihr Warten und was das Warten mit ihr, ihrem Körper, ihrem Denken macht, so eindringlich, dass man fast das Gefühl hat, man sei selbst diese wartende Person oder sei ihr zumindest an die Seite gestellt. Einen Menschen hat sie tatsächlich an ihrer Seite: D., den Freund ihres Mannes.

„Ich habe das Gefühl, daß ich es ohne die Anwesenheit D.s nicht aushalten könnte. Er kommt jeden Tag, manchmal zweimal am Tag. Er bleibt da. Er knipst die Lampe im Wohnzimmer an, er ist schon eine ganze Stunde da, es muß so gegen neun Uhr abends sein, wir haben noch nicht zu Abend gegessen. … Ich spüre um meine Schultern zwei sanfte feste Hände, die meinen Kopf vom Tisch wegziehen. Ich lehne mich an D. an.“

Er vermittelt ihr einen Hauch von Normalität und Geborgenheit. Dennoch kann sie seine Gegenwart nicht wirklich aushalten:

„Ich möchte, daß D. geht. Ich brauche den leeren Platz wieder für das Martyrium.“ Und das ist ihr Denken an ihren Mann:

„Ich schlafe jeden Abend neben ihm ein, im schwarzen Graben, neben ihm, dem Toten.“ Die Ungewissheit über die Situation ihres Mannes lässt viel Spielraum für Spekulationen aller Art. Nahezu jeden Tag versucht sie, Informationen über ihn und andere Deportierte zu bekommen, hilft mit, Namen der Zurückgekehrten in einer Zeitung zu veröffentlichen. Und kehrt ohne Informationen wieder in ihre Wohnung zurück, sich selbst und ihren Gedanken überlassen, „verfolgt vom Frieden“.

Überall in Paris bereitet man sich nämlich auf ihn vor. Bars, Restaurants etc. sind rappelvoll mit menschen. Für sie nicht auszuhalten. „Ich habe hier nirgends einen Platz, ich bin nicht hier, sondern dort bei ihm, in diesem Bereich, der für die anderen unzugänglich ist, dort, wo es brennt und wo man tötet. Ich hänge an einem Faden, die letzte der Wahrscheinlichkeiten, die, die in den Zeitungen keinen Platz haben wird. Die erleuchtete Stadt hat für mich nur noch diese eine Bedeutung: sie ist das Zeichen des Todes, das Zeichen eines Morgens ohne ihn. Es gibt nichts Aktuelles mehr in dieser Stadt, nur noch für uns, die wir warten.“

Und dann erfährt sie, wo er ist und dass er es allein nicht mehr schaffen wird zurückzukommen. Zu schwach ist er, dem Tod näher als dem Leben, bereits in ein weißen Tuch gehüllt. so finden ihn Freunde, die ihn unter dramatischen Umständen nach Paris holen. „Er muss so zwischen siebenunddreißig und achtunddreißig Kilo gewogen haben: die Knochen, die Haut, die Leber, die Eingeweide, das Gehirn, die Lunge, alles inbegriffen: achtunddreißig Kilo verteilt auf einen Körper von einem Meter achtundsiebzig.“ Der Kampf um sein Überleben beginnt.

„Nein, er konnte nicht essen, ohne zu sterben. Er konnte aber auch nicht ohne Essen bleiben, ohne daran zu sterben. Und genau das war die Schwierigkeit.“

Minutiös beschreibt sie die Bemühungen, Robert L. am Leben zu halten. Wie sie ihn gebettet haben, weil der Körper das eigene Gewicht nicht mehr tragen konnte, „man mußte dieses Gewicht in Daunen verschwinden lassen, es ruhigstellen.“ Und sie schaffen das beinahe Unmögliche, er überlebt.

„Er tat, was er tun mußte, um zu leben.“ Essen wird für lange Zeit zu seinem einzigen Lebensinhalt. „Er sah mich nicht. Er hatte mich vergessen.“ Der Mann, der zu ihr zurückkehrt ist nicht mehr der Mann, mit dem sie verheiratet war. Er redet nicht, „sagt nichts von dem, was er denkt. Er verbirgt sich.“

Doch auch sie ist eine andere geworden: „Meine Identität hat sich verschoben.“ Und so warten sie und D., bis Robert sich soweit erholt hat, dass sein Überleben gesichert ist.

„Er ist immer mehr zu Kräften gekommen. Eines Tages habe ich zu ihm gesagt, daß wir uns scheiden lassen müssen, daß ich ein Kind von D. wolle, daß es wegen des Namens sei, den dieses Kind tragen würde. Er hat mich gefragt, ob es möglich sei, daß wir eines Tages wieder zueinander fänden. Ich habe nein gesagt, ich hätte seit zwei Jahren meine Meinung nicht geändert, seitdem ich D. kennengelernt hatte. Ich habe zu ihm gesagt, daß ich, selbst wenn es D. nicht gäbe, nicht mehr mit ihm zusammenleben würde. Er hat mich nicht nach den Gründen gefragt, deretwegen ich weg wollte, ich habe sie ihm nicht gesagt.“

Und der Leser erfährt sich auch nicht explizit. Er bleibt auf eigene Mutmaßungen angewiesen.

„Der Schmerz“ ist nicht nur die Darstellung einer persönlichen Tragödie auf dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges, das Buch enthält auch Reflexionen der Autorin über die Verantwortung für die Auswirkungen des Krieges und den (politischen) Umgang der Franzosen damit.
Vor allem ist das Buch eine Anklage gegen die Unmenschlichkeit des Krieges. Dabei klagt Duras nicht explizit an. Doch sie schaut genau hin und beschreibt klar, minutiös, in einer einfachen, aber sehr eindringlichen Sprache, was sie an menschlichem Elend sieht, und zwar so detailliert, dass man manchmal kaum weiterlesen mag.

Dennoch halte ich Literatur dieser Art für wichtig und sinnvoll. Sie versucht zumindest das Unfassbare fassbar zu machen. Duras schafft es, in dem sie nicht wegsieht, sondern wahr-nimmt.

Marguerite Duras, Der Schmerz, München 1994, 208 S., ISBN 3-423-11844-x

2 Gedanken zu „Marguerite Duras, Der Schmerz

  1. Eindringlich – und ich will es und gleichzeitig will ich es nicht lesen. Nicht wieder und wieder solche Schmerzen mit-verspüren, mit-empfinden müssen. Von solcher Art Schilderung kann ich mich nicht genügend distanzieren. Will Selbstfürsorge walten lassen. Ich benötige diese derzeit. Trotzdem danke ich für die nahe gehende Besprechung!
    Gruß von Sonja

  2. Das geht mir auch oft so, doch nich interessiert auch die literarische Verarbeitung dieser Themen, ein Rest „beruflicher“ Leidenschaft.
    Doch es ist doch sinnvoll, dass du gut für dich sorgst und austarierst, was für dich im Moment gut ist und was nicht.
    Liebe Grüße

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