Juli Zeh, Neujahr

Juli Zeh, Neujahr

Die für ihre Romane vielfach ausgezeichnete Autorin hat einen neuen Roman geschrieben.

Es ist die gut erzählte spannende Geschichte Hennings, verheiratet mit Theresa. Die beide sind ein modernes Ehepaar, das sich gemeinsam um die Erziehung ihrer zwei Kinder kümmert, wobei er als Lektor überwiegend von zu Hause aus arbeitet. Er hat im Dachgeschoss ein Home-Office, das allerdings ab und an von seiner Schwester Luna bewohnt wird, wenn sie mal wieder keine feste Bleibe hat. Sehr zum Ärger von Theresa, die es stört, dass Henning so bedingungslos für Luna da ist und sich für sie verantwortlich fühlt.

„Neujahr“ beginnt am „Ersten-Ersten“ auf Lanzarote, wo die Familie Urlaub macht. Es war sein Wunsch, dort das neue Jahr 2018 zu beginnen. Es musste auf jeden Fall Lanzarote sein. Nichts anderes kam für Henning in Frage.

Der Roman hat zwei Erzählebenen: die der Gegenwart am „Ersten-Ersten“, an dem Henning in jeder Hinsicht schlecht ausgerüstet mit einem ungeeigneten, weil viel zu schweren Fahrrad, ohne Proviant, vor allem ohne Wasser zu einer Fahrradtour aufbricht. Er will nach Fermés und muss dazu den Steilaufstieg über einen Pass schaffen. Es zieht ihn magisch dorthin. Warum weiß er nicht.

Unterwegs hat er mit der Angst vor dem ES zu kämpfen, wie er seine Panikattacken nennt. Sie überfallen ihn monsterartig seit der Geburt seiner Tochter, stets begleitet von kaum aushaltbaren körperlichen Symptomen, für die keine organischen Ursachen gefunden werden können. Auch seine Frau bringt mittlerweile kein Verständnis mehr für ihn auf und meint, er solle sich doch einfach nur mal zusammenreißen. Und so lesen sich dann Hennings Neujahrswünsche:

„Henning will die Familie nicht mit seinen Neurosen belasten. Er will ein Mann sein, den es zu lieben lohnt. Er will mehr lachen, Späße machen, den kleinen Katastrophen des Alltags eine witzige Seite abgewinnen. Er will Theresa öfter in den Arm nehmen, weniger genervt von den Kindern sein, öfter mal losziehen und Freunde treffen. Das kann doch nicht so schwer sein. Jedenfalls nicht schwerer als zwanzig Prozent Steigung bei Gegenwind auf einem geliehenen Rad.“

Unterwegs ziehen also Gedanken über seinen Alltag mit Frau und Kindern durch seinen Kopf, das Gefühl, mit allen Anforderungen überlastet zu sein, sie nicht so erfüllen zu können, wie er will bzw. wie es von ihm erwartet wird, das sich breit macht und mit unermesslicher Erschöpfung verbunden ist.

Und dann bemerkt er, dass ihm die Gegend bekannt vorkommt. Immer mehr Kleinigkeiten lösen das Gefühl aus, hier bereits schon gewesen zu sein, ohne sich jedoch erinnern zu können, wann das gewesen sein könnte. Am höchsten Punkt schaut er sich um.

„Das wirklich Erschreckende ist aber, dass er kennt, was er sieht. Die Anordnung der Dächer ist ihm vertraut, der Verlauf der Gassen, der winzige Verkehrskreisel im Zentrum der rechteckige Kirchplatz, der plumpe Glockenturm. Er kennt dieses Dorf, genau aus dieser Perspektive. Nämlich von oben. Er trägt einen Abdruck davon im Gehirn. … Henning weiß genau, dass er in den vergangenen Tagen nicht hier gewesen ist. … Eine Stimme rät ihm, aufs Rad zu steigen und nach Hause zu fahren. Zu trinken, zu essen, sich auszuruhen. Sein Vorhaben abzubrechen, worin auch immer es besteht.“

Natürlich setzt er seinen Weg fort. Es zieht ihn magisch zu einem Haus, das noch weiter oben auf einem Plateau steht. Die dort lebende Lisa, eine Deutsche, die schon seit geraumer Zeit auf Lanzarote lebt, bittet ihn ins Haus, gibt ihm zu essen und zu trinken. Voller Dankbarkeit nimmt Henning das Angebot an und gerät dann in den Alptraum seiner Kindheit. Er erinnert sich, wann und mit wem er dort gewesen ist und dass das, was in dem Haus damals passiert ist, ihn und seine Schwester Luna fast das Leben gekostet hätte.

Zurück in Deutschland ist Henning überzeugt:
„Jetzt weiß er es also. Er ist traumatisiert, und zwar schwer, jeder Psychologe wird das bestätigen. Dreißig Jahre hat er auf einem unterirdischen Speicher gelebt, auf einer Höhle, verzweifelt bemüht, das Loch nicht zu sehen, durch das man hineinfallen kann. Auf dem ersten Treppenabsatz denkt er, dass sich nun alles ändern wird. Der Knoten ist geplatzt. Licht ist ins Dunkel gefallen, das Monster hat seine Sachen gepackt und ist ausgezogen. Henning wird ES nie wieder sehen.“

Doch auf dem Weg ins das Dachstudio beginnt sein Herz zu stolpern. „Die ersten Pausen zwischen den Schlägen sind so lang wie noch nie. Er hält sich am Treppenabsatz fest, schnappt nach Luft. Binnen Sekunden ist sein Rücken nass vor Schweiß. Er bekämpft den Drang, sich in einer Ecke des Treppenhauses zusammenzurollen.“

Juli Zeh zeichnet in diesem Roman das Bild einer modernen Familie mit ihren ganz normalen Schwierigkeiten, die allerdings potenziert werden durch die psychische Krankheit Hennings, die offensichtlich keiner – scheinbar auch die ihn behandelnden Ärzte – erkennt. Der Rat, sich zusammenzureißen, ist der denkbar schlechteste. Der Roman macht zudem plausibel, wie Erlebnisse in der Kindheit bis ins Erwachsenealter unbewusst das Verhalten von Menschen und damit auch ihre Beziehungen steuern kann.

Interessant, spannend, gut zu lesen und aufschlussreich.

Juli Zeh, Neujahr, Roman, Luchterhand, München 2018, 191 S., ISBN 978-3-630-87572-9

6 Gedanken zu „Juli Zeh, Neujahr

  1. das ist ja schön, es freut mich, deine besprechung zu lesen. denn gerade habe ich diesen roman als hörbuch gekauft und auf meinen mp3-player getan. bin schon ganz gespannt.
    viele grüße
    Sylvia

  2. Dieser Hinweis dagegen, liebe Mona Lisa, sagt mir sehr zu, zumal ich schon „Unter Leuten“ von Juli Zeh kenne.
    Lieben Dank für die schöne Besprechung und herzlichen Sonntagsgruss,
    Brigitte

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