Lars Mytting, Die Glocke im See

Lars Mytting, Die Glocke im See


„Die Glocke im See“ ist ein leise erzählter Roman, der in Butangen, einem Dorf in Norwegen, im Jahre 1880 beginnt, aber bis weit in die Geschichte des Dorfes, der Familie Hekne und die dort stehende alte Stabskirche mit ihren Geschwisterglocken zurückreicht, denen magische Kräfte zugesprochen werden.

In Butangen lebt Astrid Hekne, eine aufgeschlossene, intelligente, wissbegierige junge Frau, die bereits zwei Heiratsanträge ausgeschlagen hat, weil sie das damit verbundene, vorgezeichnete Leben einer jungen Bäuerin auf fremdem Hof nicht leben will. Sie träumt,
„dass das eigentliche Leben anderswo vor sich ging, so dass dieser Tag nichts anderes war als eine Verspätung. Doch wohin genau sie wollte, das wusste sie nicht, diese Träume waren nichts anderes als eine Leiter, die in der freien Luft endete. Ihre Gedanken reisten jeden Tag an einen anderen Ort, sie wusste nur, dass sie etwas suchte, das hier nicht zu finden war, niemals hier im Ort.“

Der Ort bekommt einen neuen Pfarrer. „In Kai Schweigaard steckte Saft und Kraft, wie in einer Flasche Weihnachstsbockbier.“ Astrid verliebt sich in den Pfarrer, dem sie ganz unbefangen gegenübertritt, ihm – auch ungefragt – ihre Meinung sagt. Und er erkennt ihre Wissbegierde, ihren Wunsch, über die Welt außerhalb von Butangen etwas zu erfahren. Sie darf seine Zeitungen lesen, die er regelmäßig bekommt. Er erkennt, dass sie eine wertvolle Hilfe für ihn sein kann, die Gemeindemitglieder zu verstehen und ihnen angemessen gegenüber aufzutreten. In Gedanken stellt er sich Astrid manchmal als Pfarrersfrau vor, wohl wissend, dass er verlobt ist und dass Astrid sicher nicht die demütig hinter ihm stehende Frau sein wird.

Er will viel verändern, modernisieren, in den Köpfen der Butanger und in ihrem religiösen und tatsächlichen Leben, das geprägt ist von großer Armut, Arbeit und Leidensfähigkeit. Doch spürt er auch, „dass die Dorfleute Veränderungen nicht schätzten, und noch weniger schätzten sie die Obrigkeit, wenn sie die Obrigkeit gar nicht eingeladen hatten.“ Und dazu braucht’s eine neue Kirche, die beheizbar ist, so dass die Gemeindemitglieder nicht mehr Gefahr laufen, im Winter während des Gottesdienstes zu erfrieren.

Und dann erscheint Gerhard Schönauer, ein deutscher Architekturstudent in Butangen, den seine Professoren beauftragt haben, den Abbau, Transport und Wiederaufbau der Kirche, einschließlich der beiden Schwesternglocken in Dresden zu begleiten. Für ihn scheinbar keine allzu große Herausforderung.
„Unten in Dresden hatte er gedacht, er brauche sich nur gründlich umzusehen, um die Kirche zu verstehen und mit den Arbeitszeichnungen loslegen zu können. Das Problem war nur, dass diese Kirche nicht nach Planzeichnungen gebaut war, sondern freihändig und nach Augenmaß. Eher zugehauen als gezimmert. Entrindete Baumstämme, mit einem seit langem vergessenen Wissen zusammengefügt.“

Auch er ein Mann, anders als die Männer ihres Dorfes, den Astrid interessant findet. In seinen Zeichnungen erkennt sie einen ähnlichen Wunsch nach Schönheit: „Die Leute brauchen auch etwas, das schön ist, etwas, das schmückt. … Einen Schmuck, den sie in sich drin spüren können.“ Er wäre jemand, mit dem sie ihr Dorf verlassen könnte. Mit Interesse liest sie seinen „Meyers Sprachführer für Reise und Haus“ und begibt sich in ihrer Fantasie auf eine Reise nach Dresden, in dem Laternen in der Dunkelheit den Weg erhellen. Unvorstellbar.

Als Astrid erfährt, was mit der Kirche und den Glocken passieren soll, beginnt sie gegen den Abtransport der Glocken vorzugehen, die Teil ihrer Familiengeschichte sind. Denn die beiden Glocken erinnern an die Zwillinge Halfried und Gunhild, die an den Hüften aneinander gewachsen waren. Ihre Mutter Astrid ist bei der furchtbaren Geburt gestorben. Die beiden Mädchen wurden früh mit
der Bildweberei vertraut gemacht. … Ihre Motive waren häufig rätselhaft, immer von berührender Schönheit, und ihre Arbeiten wurden gegen Silber oder Haustiere eingetauscht. … Der bekannteste Hekne-Wandteppich war eine Darstellung der Skråpånatta, der Kratzennacht, wie die lokale Version des Jüngsten Gerichtes im Dialekt hieß, lose an die altnordischen Prophezeiungen des Ragnarøk angelehnt. … Diesen Wandteppich stiftete der Vater der Zwillinge der örtlichen Kirche, wo das Bild viele Generationen lang hin, bis es eines Nachts verschwand, obwohl alle Türen abgeschlossen waren.“

Die beiden Glocken hat er nach dem Tod der Mädchen anfertigen und sein gesamtes Silber darin einschmelzen lassen:
„Die Schwesternglocken klangen weder schwermütig noch lärmten sie scheppernd. Jeder Ton hatte einen lebendigen Kern, er enthielt etwas wie die Verheißung eines besseren Frühlings, ihr lang anhaltender Nachhall vibrierte farbig und schön. Der Klang war ergreifend, er rief schillernde Bilder in den Gedanken hervor und erreichte die Herzen verhärteter Männer. Ein Glöckner, der sich auf seine Kunst verstand, konnte mit ihnen Zweifler zu Kirchgängern verwandeln.“

Mit dem Lesen des traditionell erzählten Romans taucht man in eine andere Welt ein, sitzt mit den Protagonisten an Flüssen, schaut ihnen beim Angeln zu, streift mit Astrid durch finstere Nächte, verbring mit ihr Zeit auf der Sommeralm, wo sie so sehr gerne ist, da sie dadurch der Enge der häuslichen Gemeinschaft entkommen und für sich sein kann mit ihren Gedanken, Wünschen, Fantasien und (Vor-) Ahnungen.

Es ist eine Geschichte zwischen „Tradition und Moderne“, „norwegischer Mythologie und Aberglauben“ und den Einflüssen der aufklärerischen Moderne. Und der erste Teil einer Trilogie. Ich bin gespannt, wie es weitergeht und würde den zweiten Teil auch gern lesen.

Lars Mytting, Die Glocke am See, Roman, a.d. Norwegische v. Hinrich Schmidt-Henkel, Insel Verlag, Berlin 2019, 483 S., ISBN 978-3-458-17763-0

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