Saša Stanišic, Herkunft

Saša Stanišic, Herkunft

„Herkunft“ ist ein modern erzählter, stark autobiografischer Roman über ein uraltes, aber immer noch bzw. wieder sehr aktuelles Thema.

Wie soll man die Frage nach der Herkunft beantworten?

„Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaates, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion.“

Der gesamte Roman ist der Versuch einer Antwort.

„Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Frage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“

Aus der Perspektive eines Knaben erfährt der Leser dann, wie dieser Vielvölkerstaat zerfällt und Menschen gezwungen sind, zu flüchten und liebe Menschen zurückzulassen, wie auch seine Familie. Der Ich-Erzähler flieht mit seinen Eltern nach Deutschland, seine Großeltern bleiben zurück, für ihn „Herkunft“. Und auf dieser familiären Herkunft liegt auch der Fokus des Erzählers. Von den Gräueln des Krieges erfährt man eher am Rande, sehr lapidar, lakonisch erzählt. Er war ja nicht dabei, also auch nicht direkt betroffen.

Herkunft hat für Saša viel mit Menschen zu tun, die er getroffen hat, die ihn begleitet haben, besonders seine Großmutter, die zunehmend dementer wird und inzwischen in einem Altenheim leben muss:

Herkunft ist Großmutter. …
Herkunft ist Gavrilo …
Herkunft ist in Hamburg der Junge mit meinem Nachnamen …
Herkunft ist Nana. Meine Mutter, seine Großmutter …
Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. …
Herkunft ist Krieg. …

Wichtig sind aber auch seine Kumpanen in der Schule, mit denen er auch in seiner Freizeit an einer ARAL-Tanke in einem Heidelberger Vorort abhängt. Und sein Deutschlehrer, der seine sprachliche Begabung erkennt, ihn unterstützt und ihm ermöglicht, im Rahmen einer Lyrikreihe – unter einem Pseudonym – ein eigenes, in deutscher Sprache verfasstes Gedicht vorzustellen. Sie alle begleiten ihn auf seinem Weg, in Deutschland anzukommen.

Dieser Weg wird im wesentlichen linear erzählt, allerdings immer wieder unterbrochen von Erzählungen über die Großmutter und deren Erinnerungen an ihren Mann. Es sind Erinnerungen, bei denen nicht immer klar ist, was daran Fiktion oder Wirklichkeit ist, denn damit spielt Stanišic den gesamten Roman über und er hat offensichtlich Freude und Spaß daran. Spaß auch dran sich Situationen auszudenken, die er nie erlebt, sich aber immer gewünscht hat.

Der Roman endet mit der „wirklichen“ Darstellung der Beerdigung der Großmutter, nachdem der Leser vorher die Möglichkeit gehabt hat, sich ein eigenes Abenteuer hinsichtlich der weiteren Handlung zu erschaffen:
„WARNUNG!
Lies das Folgende nicht der Reihe nach! Du entscheidest, wie die Geschichte weitergehen soll, du erschaffst dein eigenen Abenteuer. …
Du bist ich.

Du bist in das Altenheim zurückgekehrt, um deiner Großmutter gute nacht zu wünschen. Vielleicht aber bist du zurückgekehrt, damit Großmutter gar nicht erst schläft.“

Da habe ich allerdings gepasst. Ich bin überhaupt keine Spielernatur! Die letzten 50 Seiten habe ich ausgelassen bzw. quer gelesen und habe für mich den Eindruck – überflüssig.

Dennoch hat mir das Lesen dieses beeindruckenden Romans viel Freude bereitet, vor allem die vielen erzählerischen Darstellungsformen und sein Spaß an zahlreichen Wortneuschöpfungen. Zudem es gelingt Stanišic – ohne moralischen Zeigefinger – auf beeindruckende Weise, die Ausschreitungen Rechter in Hoyerswerda in den 90iger Jahren miteinzubeziehen und Parallelen zu aktuelle politischen Strömungen aufzuzeigen, in denen es erneut um die Frage nach der Herkunft eines Menschen geht.
Auf jeden Fall ein lesenswerter Roman!

Saša Stanišic, Herkunft, Roman, Luchterhand Verlag, München 2019, 355 S., ISBN 978-3-630-87473-9

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