Geir Gulliksen, Geschichte einer Ehe

Geir Gulliksen, Geschichte einer Ehe

Ob der Titel an den berühmten Film Ingmar Bergmanns „Szenen einer Ehe“ anknüpfen will, weiß ich nicht. Doch sowohl der Film als auch der Roman befassen sich mit dem Scheitern einer Ehe.
Dass es die Geschichte des Scheiterns ist, darüber wird der Leser nicht im Unklaren gelassen. Ziemlich zu Beginn erfährt man:

„Diejenige, die mit mir zusammen war, gibt es nicht mehr. Denjenigen, der mit ihr zusammen war, auch nicht. Einst gab es uns, wir lebten zusammen, und jetzt ist dieses Leben vorbei, und sie hat schon vergessen, wer wir waren. Sie ist außer Reichweite dessen, was geschah, und ich bin es auch.“

Jon war bereits einmal verheiratet und hat ein Kind mit seiner ersten Frau, mit dem er in die Sprechstunde Timmys kommt. Das Kind ist ihre erste Patientin überhaupt. Timmy, angehende Ärztin, und Jon mit dem Berufswunsch, Journalist zu werden bzw. zu schreiben, begegnen sich an der Uni wieder und beginnen ein Gespräch. „Es wurde ein langes Gespräch, fast zwanzig Jahre hielt es an.“

Schon bald geht Jon zu seiner Ehefrau und sagt ihr: „Ich muss mit dir reden, mit einer Stimme, die Untergang und Tod verkündete.“ Für sie kommt seine Entscheidung, sie und das gemeinsame Kind zu verlassen, völlig überraschend und entsprechend heftig reagiert sie – bis hin zu Suizidgedanken. Er verhält sich recht unemotional:

„Sie erhält keine Hilfe von mir. Ich will nicht reden, ich traue mich nicht, ich schaffe es nicht. Ich habe mich entschieden, ich will nur noch weg von dem Leben, das ich gelebt habe und von dem ich plötzlich verstanden habe, dass es nicht auszuhalten war. Ich finde nicht, dass ich ihr eine Erklärung schuldig bin. Ich habe mich schon einer neuen Liebe versprochen, und die neue Liebe wird alles andere wegwischen. … Ich habe einfach nur eine andere kennengelernt, und jetzt will ich lieber die andere haben.“

Sie erkennt, dass es hoffnungslos ist zu kämpfen, und gibt auf. Das letzte Wichtige, was sie ihm sagt, ähnelt einem Fluch:
„Ich will dir nur eine allerletzte Sache sagen. Und zwar, dass ich dir wünsche, dasselbe eines Tages auch zu erleben. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass du einmal genauso verlassen werden wirst, wie du mich verlassen hast.“

Ob ihr diese Rachegedanken geholfen haben, erfährt der Leser nicht, in Jon aber hallen diese drohenden Worte nach und verfestigen sich in einer tief sitzenden Angst, irgendwann derjenige zu sein, „der nicht mehr gewollt war.“

Jon erzählt die Geschichte ihrer Ehe im Rückblick, berichtet gleichwohl auch aus Timmys Perspektive, wobei oft nicht klar ist, inwieweit er tatsächlich Geschehenes erzählt oder das, was er vermutet, was geschehen sein könnte bzw. was Timmy gedacht, gefühlt haben könnte und ist dennoch in vielerlei Hinsicht blind für das, was naheliegt:

„Doch ich habe ja nichts von dem verstanden, was mit ihr passiert ist, trotz allem, was ich gesagt habe, und allem, was ich mir in meiner Phantasie ausgemalt habe. Ich glaubte, ich könnte in sie hineinsehen, und sie glaubte es beinahe auch. Doch jetzt, wo sie nach Hause kommt und eine andere geworden ist, oder endlich sie selbst geworden ist, bin ich trotzdem nicht im Stande, es zu sehen.“

Er arbeitet mittlerweile freiberuflich von zu Hause aus, übernimmt die Rolle des Hausmannes, der putzt, kocht, wäscht, die beiden gemeinsamen Kinder versorgt und auf seine abends nach Hause kommende Ehefrau wartet, die ihm bitte davon erzählen soll, was sie tagsüber getan und erlebt hat.
Er hat viel Zeit darüber nachzudenken, was Liebe ist, welche Bedeutung Timmy für ihn hat, betont immer wieder, dass sie ihren Weg gehen solle und er sie in allem unterstützen werde, was sie möchte, solange sie ihm gehört. In vielen Variationen liest man, für wie ungewöhnlich er ihre Ehe hält:
„Es musste Liebe sein, was sollte es sonst gewesen sein? Und es musst eine große Liebe sein, eine ungewöhnlich große und allumfassende Liebe, es musste eine Nähe und Gemeinschaft sein, und eine Anziehung zwischen uns beiden, die über das Gewöhnliche hinausging. Sonst wäre es das Ganze nicht wert gewesen, dass ich mich von meinem Kind getrennt hatte. … Wie sollte ich diesen Verrat vor mit selbst rechtfertigen, oder vor meiner Tochter, wenn sie erwachsen geworden war, … wenn nicht durch eine ungewöhnlich große und alles verändernde Liebe.“

Welche Gemeinsamkeiten sie über ihre sexuelle Anziehung hinaus haben, die seitenweise in detaillierter Ausführlichkeit beschrieben wird, wird ehrlich gesagt nicht wirklich deutlich. Ihre Ehe ist eine Art „Kammerstück“, ohne sozialen und gesellschaftlichen Kontext, die sich hauptsächlich im Schlafzimmer in Körperlichkeit und ihren, vornehmlich seinen, sexuellen Phantasien ausdrückt. Manchmal werden sogar die Kinder vor dem Fernseher geparkt, damit die beiden sich noch einmal ins Schlafzimmer verziehen können, wo sie vorher von ihren Kindern in ihren Liebesaktivitäten gestört worden sind. Und immer wieder flüstert er ihr ins Ohr, wie gern er sie dabei beobachten würde, wie sie mit einem anderen Mann schliefe, und er dann anschließend – und hier kommen dann noch homosexuelle Phantasien ins Spiel – den Mann an all den Stellen berühren möchte, mit denen dieser sie berührt habe.

Als dann tatsächlich ein männlicher Arbeitskollege in Timmys Umkreis auftaucht, den sie offensichtlich attraktiv findet oder Jon es für sie so phantasiert – so genau ist das oft nicht auszumachen – gerät er in die Fänge seiner eigenen Verlassensängste und verhält sich meist ähnlich irrational wie ein kleines Kind, mit Panikattacken, Weinkrämpfen und will von Timmy getröstet werden, der er immer wieder unterstellt, mit ihrem Kollegen fremdzugehen.

Es ist keine wirklich neue, originell erzählte Geschichte einer Ehe. Vielmehr ist die Erzählperspektive manchmal eher verwirrend. So fragt man sich beim Lesen immer wieder, woher er das weiß, was er da erzählt, da er anschließend explizit sagt, man habe ihm genau das nicht mitgeteilt.

Seine Ausführungen über Liebe und Sexualität hören sich eher an wie eine Zweckgemeinschaft: Wir hatten„zärtlichen oder heftigen Sex, um durchzuhalten, um die Lageweile der Tage und das Chaos und die Erschöpfung durchzustehen. Wir bekamen Kinder miteinander, um auszuhalten und um unsere eigene Welt reicher und unvorhersehbarer zu machen. … halfen uns morgens, aus dem Bett zu kommen, um mehr aus dem Leben zu machen als nur etwas, das man durchhielt. … wir hielten einen unaufhörlichen Flirt miteinander aufrecht, um unser Leben, wenn möglich, schöner zu machen. Was hätten wir sonst tun sollen?“

Wirklich so außergewöhnlich?

Geir Gulliksen, Geschichte einer Ehe. Roman, Luchterhand Verlag München 2019, 221 S., ISBN 978-3-630-87605-4



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