Dag Solstad, T. Singer

Dag Solstad, T. Singer

Protagonist des Romans ist T. Singer, ein 34jähriger Bibliothekar, der zu Beginn der Romanhandlung dabei ist, in der Kleinstadt Notodden eine neue Stelle anzunehmen.

Seinen konkreten Vornamen erfährt man nicht. Der Erzähler nennt ihn meist nur bei seinem Nachnamen. Zum Schluss dieses Roman fragt man sich als Leser, was man nun genau von diesem Singer weiß.

Das Erste, was man von Singer erfährt ist, dass er unter „einer speziellen Form von Schamgefühl“ leidet, das ihn „überall ereilen konnte, auf einer Straße, in einem geschlossenen Raum, auf dem Bahnsteig eines Bahnhofs, und er war stets allein, wenn es geschah, häufig jedoch an Orten, an denen er auch andere Menschen versammelt waren, die hin und her liefen, in einer Straße oder einem Park oder einem Ausstellungsraum, sodass diese anderen ihn innehalten sahen, stocksteif, mit den Händen vor dem Gesicht, und sie hörten sein verzweifeltes ‚Nein, nein‘.“ Es dauert noch weitere drei Seiten detailliertester Beschreibungen, bis man die Ursache dieser Scham erfährt: Singer ist von seinem Onkel in einem Spielwarengeschäft bei einem „komischen Lachen“ beobachtet worden. Wobei das nur seine Vermutung über eine mögliche Bewertung seines Lachens durch den Onkel ist. Denn er hat nie mit ihm darüber gesprochen.

„Mehr ist es eigentlich nicht. Ein kleiner unscheinbarer Vorfall in Singers Leben, aus seiner Kindheit hochgeholt. Dass es ihm peinlich war, von seinem Onkel beobachtet zu werden, ist an und für sich nicht schwer zu verstehen. Schwerer zu verstehen, ist, dass sich der Vorfall in sein Unterbewusstsein eingebrannt hatte und hin und wieder als Bild in seinem Bewusstsein auftauchte, dass er sich nicht nur daran erinnerte, dass es ihm damals peinlich gewesen war, sondern dass es ihm immer noch peinlich war, wenn der Vorfall in ihm hochkam, ja er empfand bei seiner Erinnerung daran ein unfassbar starkes Schamgefühl.“

Unglaublich ist diese umfassende Beschreibung, wenn man dann liest, dass ihn dieses Schamgefühl im Alltag nicht plagt, er aber stets darüber nachgrübelt, warum er dieses Schamgefühl hat und nicht loswerden kann: „Ihm war es ein Rätsel, und es nervte ihn nicht wenig.“ Aber so ist er halt: rastlos, ratlos, grüblerisch veranlagt und ein Eigenbrötler, einer der keinen Kontakt zu Menschen sucht, weder privat noch beruflich, der lieber auf seine Bücher im Archiv aufpasst. Er kann gerade noch über „Archivierungstechniken und alternative Katalogisierungssysteme, Labyrinthsimulatoren und Buchstapelberechnungskatalysatoren“ sprechen und „wie diese sinnvoll in Computersysteme integriert werden könnten.“

Umso erstaunlicher ist es, dass er sich in Notodden in die Töpferin Merete Sæthre verliebt, Mutter einer Tochter, sie heiratet und mit ihr und ihrer Tochter zusammenlebt. Er passt sich an, ist ein Mann, der nach dem verherrlichten Geschöpf seiner selbst strebt, das eine Frau, die er liebt, für ihn erschaffen hat, ein Geschöpf, das er gern voll und ganz ausfüllen will.“

Nur bei der Kleidung ist seine Frau erfolglos: „Er begriff, dass er hart bleiben musste, um seine alte Garderobe behalten zu können und auch seine Brille nicht austauschen zu müssen. … so brachte er zum Ausdruck, dass er nicht neugeboren war, dass er auch im Rausch der Verliebtheit ganz der Alte war.

Doch auch als Verheirateter lebt er „völlig im Verborgenen, anonym, inkognito … Hier konnte ihn keiner finden, er war spurlos verschwunden vor allen und allem, vor denen oder dem er verschwinden wolle, so empfand er es, mit großer innerer Zufriedenheit.“ Nur dass es diese Personen konkret gar nicht gibt.

Auch von den beiden erfährt man nur Rudimentäres, sie scheinen auch nicht wirklich in Kontakt zu sein, miteinander zu leben. Wie auch?
Sie beschließen folgerichtig, sich scheiden lassen. Doch bevor es dazu kommt, stirbt Merete bei einem Autounfall. Das löst bei Singer wiederum unvorstellbare Grübeleien aus, weil er sich Gedanken darüber macht, wie er dastünde, sollten die Menschen seiner Umgebung von ihren Scheidungsplänen erfahren.

Er beschließt also, mit seiner Stieftochter Isabella in Oslo ein neues Leben zu beginnen. Ausführlich beschreibt der Erzähler, wie er seiner Stieftochter Oslo nahezubringen versucht, in sehr ähnlichen Formulierungen, die stets variiert andere Details betonen:
– In den ersten Wochen verwendete Singer viel Zeit darauf, mit Isabella durch
Oslo zu laufen …
– Von nun an war Isabella ein Oslo-Mädchen, so wie er ein Oslo-Mann war …
– Singer zeigte ihr Oslo …
– Singer Zeigte Isabella Oslo …
– Singer zeigte Isabella Oslo, die Stadt, die ihre werden sollte …
– Singer zeigte der achtjährigen Isabella Oslo.
– Er versuchte ihr zu zeigen, dass Oslo eine magische Stadt war, …

Er will seiner Stieftochter „die Kindheit vergolden“ – ist aber immer nur Zuschauer, emotional nicht involviert, geistig meist abwesend und hat überhaupt keine Ahnung, was in diesem Mädchen vor sich geht. Er läuft im Großen und Ganzen allein durch die Welt, unverbunden selbst in Beziehungen, sich und den anderen stets ein Rätsel, zu Freundschaften nicht fähig.

Fazit des Erzählers zum Ende des Romans:
„Jetzt wundern sie sich, denn jetzt begreifen sie, dass sie ihn nicht einordnen können. Dass sie Singer mit ihren selbstkomponierten Konzepten nicht zu fassen vermögen. Sie können nicht sagen, wie sie, ohne auch nur einen Augenblick daran zu zweifeln, geglaubt hatten, Singer sei so oder so.“

Dem kann man als Leser nur zustimmen: Man liest viel über Singer, doch er bleibt ein grübelndes Rätsel, ein merkwürdiger Einzelgänger, sprachlich sehr diffizil von Dag Solstad beschrieben. Näher kann man einem solchen Menschen sicher nicht kommen.

Das Buch ist eine lesenswerte Herausforderung, wie immer in feiner Dörlemann-Manier mit Leineneinband und Lesezeichen. Sicher ein bereichernder Beitrag zur Frankfurter Buchmesse im Herbst mit dem diesjährigen Schwerpunkt „Norwegen“.

Dag Solstad, T. Singer, Roman, Deutsch von Ina Kronenberger, Dörlemann Verlag, Zürich 2019, 284 S., ISBN 978-3-03820-065-9


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