Hertha Pauli, Jugend nachher

Hertha Pauli, Jugend nachher

„ICH MÖCHTE SCHREIEN. Aber das tut man nicht in Amerika, wie ich in der kurzen Zeit meines Hierseins bereits gelernt habe. Hier lächelt man – Keep smiling – und auf die Frage, wie es geht, antwortet man noch im Sterben: ‚Danke fein.‘
Mir kann freilich nichts passieren, denn ich war schon tot. Also, lächle ich zu allem, was das Leben noch bietet, und sage ohne weiteres: ‚Fein.'“

Welch ein Romananfang! Die, die des öfteren schreien möchte und sicher auch allen Grund hätte zu schreien, ist die Irene, die nach ihrer Befreiung aus dem KZ in einem amerikanischen Lazarett wach wird, halbseitig fast gelähmt. Die Todesspritze, die sie noch kurz vor Befreiung des KZ erhalten hat, hat ihre Wirkung nicht richtig entfalten können. Irene erholt sich, sie humpelt zwar und kann sich nur mit Hilfe eines Stocks fortbewegen, doch sie wird weiterleben können. Wo, das weiß sich noch nicht, ihre gesamte Familie ist ausgerottet worden.

„Na, wo hat’s denn dich erwischt?“ Diese Frage von Michael, einem anderen, etwa gleichaltrigen Patienten, einarmig und mit einer Augenklappe über einem Auge, macht Irene sofort die Kluft zwischen ihr und dem anderen überdeutlich:

„Natürlich war der von einer Bombe verletzt worden wie die anderen Patienten hier, wie das normal und ehrenvoll war. Natürlich war er früher in der Hitlerjugend gewesen, wie sich das gehört. Nie durfte ich zugeben, dass ich aus dem Lager kam.
Lügen hatte ich gelernt. Also nahm ich mich zusammen, brachte zwar keinen ordentlichen Satz heraus, warf aber mit einem Achselzucken hin: „Draußen halt – die Kälte – .“

Die beiden freunden sich an, Irene, getrieben von ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit, ist von diesem Michael, einem ehemaligen Hitlerjungen, fasziniert, als er ihr von seinen Freunden, seiner Mitgliedschaft in einer „Wolfsbande“ und dem dort herrschenden Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Blutsbrüdern erzählt.

„Der Hunger stieg wieder nagend in mir auf. Mein Leben lang hatte ich nie zu einer Gruppe gehören dürfen. … Seit ich denken konnte, war ich im Versteck oder im Lager gewesen.“

Irene kann nach einiger Zeit entlassen werden. „Wir sehen uns wieder.“ Mit diesem Satz verabschieden sich die beiden im Lazarett voneinander. Und sie sehen sich wieder – mit fatalen Folgen.

Irene wird von einer alten Freundin ihrer Mutter und deren Mann, die sie „Tante“ und „Onkel“ nennt, aufgenommen. Sie haben eine kleine Pension etwas außerhalb der Stadt und können dort eine kostenlose Haushilfe gut gebrauchen. Zudem ist Irene für sie eine willkommene Möglichkeit, eine Art „Aushängeschild“, sich von ihrer strammen NS-Vergangenheit – zumindest offiziell und nach außen hin – abzugrenzen. In ihren Gedanken, ihrer Sprache, ihrer Sicht auf Welt herrscht weiterhin nationalsozialistisches Gedankengut vor, so dass der Satz des Onkels:

„Wir brauchen Ordnung im Lande. Erst muss wieder alles richtig arisiert werden!“

keinem weiter auffällt. Nur Irene bemerkt diese „freudsche Fehlleistung“. Denn eigentlich wollte der Onkel „organisiert“ sagen. „Natürlich“ muss auch hier im Kreise der Pensionsbewohner – Kriegerwitwen, Kriegsinvaliden – ihre KZ-Vergangenheit unerwähnt bleiben. Sie, die sich von ihrem Führer betrogen fühlen, sind vorrangig damit beschäftigt, den verlorenen Krieg zu bedauern und ihre persönlichen Verluste. Da bleibt kein Raum für Irenes Schicksal. Wieder fühlt sie sich außen vor.

Halt sucht sie über Michael und seine „Wolfsgruppe“ zu finden, in der Mädchen allerdings nicht zugelassen sind und nur bei gelegentlichen Treffen dabei sein dürfen, wenn der „Wolf“, Führer dieser Gruppe, dies zulässt. Als Irene sich bei einem dieser Treffen in Toni verliebt und er ihretwegen die Gruppe verlassen will, wird es für beide lebensgefährlich, denn auf Verrat steht die Todesstrafe. In einem späteren Gerichtsprozess, in dem es um verschiedene Morde, Mordversuche, Raubüberfälle der Gruppenmitglieder geht, werden die autoritären Prinzipien und Strukturen dieser Gruppe deutlich, in der „Wolf“ mit einer Skrupellosigkeit herrscht, die die NS-Ideologie ungehemmt weiterleben lässt.

„Die Todesurteile verhängte ich, der Zweck des Forums war hier nur die statutengemäß einstimmige Billigung meiner Entschlüsse. Das Forum hatte für mich symbolische Bedeutung. Praktisch war es unnötig, denn mein oberster Grundsatz war und blieb das Führerprinzip!“

Der Roman, erzählt aus der Perspektive Irenes, die, das macht die kleine Rahmenhandlung deutlich, mittlerweile in Amerika lebt, ist ein unaufgeregter, gleichwohl spannender Roman, der die psychologische Situation der Bevölkerung nach dem Krieg verdeutlich:

die Orientierungslosigkeit aller, die Suche nach neuen Werten, das Festhalten an alten Idealen von Kameradschaft, Blutsbrüderschaften, Gehorsam, Zucht und Ordnung, allem voran die fehlende Bereitschaft, über eigene Schuld und Mitverantwortung nachzudenken, das Verleugnen der Verbrechen im KZ und die Weigerung, den Überlebenden und ihrem Leid zuzuhören. Sie leiden ein Leben lang unter den Folgen, was dieser Roman eindringlich, aber auf unspektakuläre Weise deutlich macht.

Der Roman ist bereits 1959 In Österreich erschienen, aber kaum zur Kenntnis genommen worden, wie auch hier in Deutschland die „Trümmerliteratur“ wenig beachtet worden ist. Man war mit anderem beschäftig. Der Roman besitzt leider immer noch bzw. wieder aktuelle Brisanz angesichts der immer zahlreicher werdenden Stimmen, die immer lauter braunes, rassistisches, menschenverachtendes Gedankengut verbreiten – oft ungestraft und von vielen applaudiert.

Hertha Pauli, Jugend nachher, Roman, mit einem Nachwort von Evelyne Polt-Heinzl, Milena Verlag, Wien 2019, 243 S., ISBN 978-3-903184-40-4

4 Gedanken zu „Hertha Pauli, Jugend nachher

  1. Wichtige Lektüre, denke ich, und mir fällt ein, wie eine alte Frau dort in Buffalo meiner Tochter ihren Arm unter der Rüschenbluse zeigte, die Nummer darauf- und die Tochter bat, ihr ein deutsches Volkslied vorzusingen, wobei dann beide weinten.
    Montagsgruß von Sonja

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