Alain Claude Sulzer, Unhaltbare Zustände

Alain Claude Sulzer, Unhaltbare Zustände

Unhaltbare Zustände“ des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer ist ein von feiner Sprachmelodie getragener Roman über Robert Stettler, einen in die Jahre gekommenen, unverheirateten Schaufensterdekorateur, der seit Jahrzehnten die großen Schaufenster des bekannten Kaufhauses „Quatre Saisons“ mit Akribie und Sorgfalt gestaltet.

Stettler ist ein Mann, dem nichts fehlt:
Er empfand keinen Mangel, kein Bedauern, sondern Zufriedenheit über die Gleichförmigkeit der dahinschwindenden Tage, Nächte, Wochen Monate und Jahre. Keine Sehnsucht zerriss ihn je, kein Veränderungsdrang, kein Veränderungszwang schwemmte unangebrachte Gefühle an die Oberfläche. Er musste sich nicht im Zaum halten, nichts drängte ihn, über die Stränge zu schlagen. Wer keine übermäßige Freude empfindet, dem bleibt auch das größte Unglück erspart, sagte er sich, das stille Verhalten war in seine Blutbahn eingeschrieben.“

Doch das ändert sich schlagartig, als die Warenhausleitung Bleicher, einen neuen Dekorateur, einstellt, der Stettler nicht assistieren, sondern selbstständig arbeiten soll.

„Nichts spricht dagegen, dass sie sich austauschen. Wir brauchen neuen Wind, … . Das wissen Sie genauso gut wie ich. Bleicher ist ein Mann der Zukunft. Man reißt sich um solche Männer. … Wir müssen die Discounter abwehren. Die Discounter könnten unser Tod sein, sie stehen Gewehr bei Fuß.“

Im Gespräch mit seinem Chef gehen Stettler dann plötzlich die Augen auf: „Schuster … trug das Haar wie die Beatles es trugen, die Stettler von Fotos aus der Zeitung kannte. Die neue Frisur war ein Zeichen der Zeit, wie die Anstellung Bleichers ein Tribut an die neue Zeit war. Der Haarschnitt veränderte sich wie die Moral.“

Stettler kann die Veränderungen, die nicht nur in seinem Warenhaus, sondern auch auf der Straße durch politische Demonstrationen sichtbar werden, nicht verstehen, akzeptieren schon gar nicht. Er fühlt sich bis in die Grundfesten erschüttert und weiß nicht damit umzugehen.
In seinen Träumen verarbeitet er die gefühlten Niederlagen, sinnt auf Rache, versucht den neuen Mitarbeiter moralisch zu diskreditieren und findet ein wenig Entspannung beim Hören von Musik. Als er ein Interview mit Lotte Zerbst, einer Pianistin, im Radio hört, ist er von ihrer sanften Stimme angetan und schreibt ihr einen Brief, den sie auch beantwortet.

Als sie in seiner Heimatstadt ein Konzert geben soll, lässt sie ihm eine Konzertkarte hinterlegen. Er hofft auf ein Treffen mit ihr nach dem Konzert. Doch das Klavierkonzert von Schostakowitsch, das sie spielen soll, wird aus politischen Gründen abgesagt. Die Russen haben kurz vorher die Tschechoslowakei überfallen. Das Spielen dieses Klavierkonzertes könnte als nicht gewollte politische Zustimmung missverstanden werden. Also begegnen sich die beiden nicht, haben aber nach wie vor losen Briefkontakt.

Man erfährt nach und nach Stationen aus dem Leben der Pianistin und des Schaufensterdekorateurs. Zunächst in Kapiteln, in dem jeweils einer der beiden Protagonist ist. Dann gehen die Erzählungen ineinander über. So als käme es langsam zu einer tatsächlichen Annäherung. Die findet dann schon statt, allerdings auf sehr ungewöhnliche, überraschende Art und Weise.

„Unhaltbare Zustände“ ist die Biografie eines Mannes, der nicht mit der Zeit gehen kann, die ihn mit ihren Veränderungen überrollt, da er ihr nichts entgegenzusetzen hat. Das Festhalten am Alten, am Hergebrachten ist allerdings auch keine Lösung. Und es ist die mosaikartige Biografie einer Pianistin, die die von ihrem – Frauen nicht nur als Künstlerin verachtenden – Lehrer ausgehende Gewalt aushält, um ihre Karriere nicht zu gefährden, bevor sie überhaupt begonnen hat. Sie will Konzertpianistin werden und sieht für sich keine andere Möglichkeit.

Der Roman spielt in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts, ist in seiner Problematik allerdings auch auf die Veränderungen des heutigen Arbeitsmarktes, der durch die immer weiter fortschreitende Digitalisierung sicher den ein oder anderen auch auf der Strecke bleiben lässt, übertragbar und auf die aktuelle Me-too-Debatte.

Gut lesbar und einfühlsam geschrieben, ohne sentimental daherzukommen.

Alain Claude Sulzer, Unhaltbare Zustände, Roman, Galiani Verlag, Berlin 2019, 266 S., ISBN 978-3-86971-194-2

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