Ali Smith, Herbst

Ali Smith, Herbst

Ein alter Mann, Mr Daniel Gluck, liegt in seinem Bett in einem Altersheim, meist mit geschlossenen Augen und erhält regelmäßig Besuch von Elisabeth Demand, einer um viele Jahren jüngeren Frau.

„Die letzten drei Male, die Elisabeth da war, hat er geschlafen. Er wird heute auch schlafen, wenn sie kommt. Sie wird sich an sein Bett setzen und das Buch aus ihrer Tasche holen.
Schöne alte Welt.
Daniel wird so tief schlafen, dass es aussehen wird, als wache er nie wieder auf.
Hallo, Mr. Gluck, wird sie sagen, falls er es doch tut. …
Aber es ist sinnlos, so etwas zu denken. Er wird nicht wach sein. …
Falls er aber doch aufwachen sollte, würde er ihr als Erstes irgendeine Szene aus der ergiebigen Landschaft in seinem Kopf schildern, in der er herumgewandert ist.“


Und mit einer solchen inneren Landschaft beginnt auch der Roman. Daniel Gluck träumt von bzw. macht sich sein eigenes Bild von seinem Sterben, beendet diesen Traum aber auch selbstständig: „Danke für die Einladung, Tod. Bitte entschuldige, aber ich muss zurück ins Leben.“

Der Roman erzählt die besondere Freundschaft zwischen Daniel und Elisabeth, die in unmittelbarer Nachbarschaft gewohnt haben. Zu Beginn hat Elisabeths Mutter Mr. Gluck, wie sie ihn immer nannte, als eine Art „Babysitter“ eingespannt, wenn sie weg wollte, ihre Tochter aber nicht allein bleiben sollte.

Es ist eine langjährige, sehr innige Freundschaft, geprägt durch das Lesen von Büchern und den Fantasiereisen Daniels, der ihr von Bildern erzählt, die – so glaubt Elisabeth zunächst – nur in seiner Vorstellung bestehen. Bis sie dann später – kurz vor ihrer Abschlussarbeit am Ende ihres Studiums – einen alten Kunstkatalog der Pop Art Künstlerin Pauline Boty entdeckt, die in Fachkreisen kaum Beachtung gefunden hat, weil es angeblich keine Pop Art Künstlerinnen von Format gegeben hat. Ihr Dozent verweigert ihr, bei ihm eine Arbeit über diese Künstlerin zu schreiben. Sie wechselt den Dozenten, forscht weiter, schreibt ihre Arbeit und ist sich sicher, dass Daniel zumindest einige Bilder der Künstlerin kannte.

Die verschiedenen Ereignisse im Leben der beiden werden nicht chronologisch, sondern eher versatzstückartig erzählt. So dass erst nach und nach ein in sich stimmiges Ganzes entsteht, dass die Bruckstückhaftigkeit dennoch nicht verschwinden lässt. Gleichzeitig werden die Absurditäten von Verwaltungsvorschriften etwa beim Beantragen eines Passes deutlich gemacht, mit denen deutsche Leser sicher in ähnlicher Form auch schon Erfahrungen haben machen können.

Selbstverständlich wird auch der Brexit – nahezu drei Seiten lang – mit den polarisierenden Auswirkungen auf die Bevölkerung und alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens auf sehr einfache, reduzierte Weise dargestellt, die gerade deshalb so klar wirkt:

„Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Falsche. Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Richtige. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich verloren. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich gewonnen. ….
Im ganzen Land fiel das Land in Stücke. Im ganzen Land trieben die Stücke voneinander fort.
Im ganzen Land war das Land geteilt, ein Zaun hier, eine Mauer da, eine rote Linie hier gezogen, eine rote Linie da überschritten,
hier eine Grenze, die man nicht überschreitet
da eine Grenze, die man besser nicht überschreitet,
hier ein Grenzstein,
da eine Grenzmauer,
hier eine Grenze, von deren Existenz man nicht mal weiß,
da eine Grenzveränderung, die man sich nicht leisten kann,
ein neuer Grenzverlauf,
ein Grenzfall,
ganz grenzwertig
hier und da.“

Der Roman endet zum einen mit der Frage Mr Glucks:
„Oh hallo. Ich dachte mir schon, dass du es bist. Gut. Schön, dich zu sehen. Was liest du gerade?“ Ob er sie nun tatsächlich gestellt oder Elisabeth sich diese so oft gestellte Frage in diesem Moment nur ausgedacht hat, ist unerheblich, zum anderen mit dem Ausblick auf einen Rosenbusch im November, „Trotz Feuchte und Kälte ist an einem Busch, der bereits abgeblüht aussieht, eine Rose, weit geöffnet, noch.
Sieh dir die Farbe an!“


So einfach und klar die Sprache teilweise ist, so metaphorisch blumig ist sie dann an anderen Stellen. Facettenreich wie der gesamte Roman.

Ali Smith, Herbst, a.d. Engl. v. Silvia Morawetz, Luchterhand Verlag, 3. Aufl. 2019, 267 S., ISBN 987-3-630-87578-1

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