Alice Miller, Die Revolte des Körpers

Alice Miller, Die Revolte des Körpers

Dieses schmale Miller-Bändchen von „nur“ 202 Seiten hat’s in sich, wie viele ihrer Schriften vorher auch. In Fach-kreisen hat sie sich damit nicht nur Freunde gemacht. Denn sie kritisiert gängige Therapieverfahren, da sich viele Therapeuten neben Eltern und Kirchenvertretern zu Ausführungsorgangen des vierten Gebotes machten :

„Du sollst deine Eltern lieben und ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden.“ –

Wohlergehen erfahren aber all die Kinder nicht, die durch Misshandlungen ihrer Eltern, gleich welcher Art , teilweise lebenslänglich darunter leiden. Sie müssen die Implika-tionen und Fallstricke dieses Gebotes für das eigene Wohlergehen erkennen, sich von diesem Gebot lossagen und Misshandlungen, Lieblosigkeiten der Eltern als solche erkennen, benennen und als Realtitäten annehmen. Darauf anders zu agieren als bisher, führt aus den Au-gen der Befürworter dieses Gebotes zur Missachtung desselben, zur Sünde, zum Abfall vom rechten Weg.

Doch erst dann haben diese Menschen nach Millers Ansicht die Möglichkeit, ein wirklich erwachsenes Leben zu führen, das sie dann auch befähigt, mit den eigenen Kindern liebevoller umzugehen, denn Liebe lässt sich nicht verordnen.
Ausgehend von eigenen Erfahrungen, die sie dann in Kunst und Literatur verarbeitet wiedergefunden hat, zeigt Miller auf, dass der eigene Körper als Wegweiser dienen kann, die wirklichen Gefühle offenzulegen, die dann als Handlungsimpulse für ein Leben in Gesundheit, Offenheit und (Selbst-)Vertrauen genutzt werden können. Wer bereit ist, sich der Wahrheit der Kindheit zu stellen und die Eltern in einem realistischen Licht zu sehen, braucht einen empathischen, „wissenenden Zeugen“, der zuhören, ver-stehen kann und da ist, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Das muss nicht der Therapeut sein, sondern einfach jemand, der Verständnis hat und den Betreffenden akzeptiert wie er ist, in einem Fall war’s die Putzfrau einer Klinik.
Therapeuten kommen dann für sie an ihre Grenzen, wenn sie durch durch therapeutische Interventionen Menschen von den „authentischen Gefühlen und von ihrer Reali-tät als Kind ablenken“ und ihnen damit die Möglichkeit der Heilung nehmen. Das ist meist der Fall, wenn sie versuchen, ihre Klienten dazu zu bringen, ihre Eltern zu verstehen, ihnen zu verzeihen und sich mit ihnen zu versöhnen, weil sie selbst (unbewusst) das vierte Gebot unter allen Umständen beachten müssen. Auf diese Weise sei Heilung nicht möglich.
Damit scheint sie Autoren wie Nerin mit seinem Buch „Versöhnung mit den Eltern“ zu widersprechen. M.E. weist sie – notwendigerweise – darauf hin, dass Versöhnung, erst dann stattfinden kann, wenn die Implikationen des vierten Gebotes erkannt worden sind, man sich von den verinnerlichten Eltern verabschiedet hat, ein erwachsenes Leben führt und dann noch die Kraft hat, zu verzeihen. Doch – so ihr Rat: man höre unbedingt auf die Signale des Körpers.
Das heißt aber nicht, dass sie die Not der Eltern völlig außen vor lässt, die ja meist ähnliche Behandlungen von ihren Eltern erfahren haben. Doch sie lässt die Verantwortung bei den Eltern und bürdet sie nicht den Kindern auf, die dann ja oft auch noch – im Sinne des vierten Gebotes – für das Wohlergehen der Eltern verantwortlich gemacht werden. Miller sieht in der Verordung zu verzeihen keine Möglichkeit, den Kreislauf zu durchbrechen.

Alice Miller, die Revolte des Körpers, Frankfurt 2005, 202 S., ISBN  978-3-518-45743-6

2 Gedanken zu „Alice Miller, Die Revolte des Körpers

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