Margaret Mazzantini, Das Meer am Morgen

Margaret Mazzantini, Das Meer am Morgen

Dieses Buch macht auf stille und dennoch eindringliche Art anhand von zwei Flüchltingsfamilien auf die lange bestehenden politischen Verflechtungen zwischen Italien und Libyen aufmerksam, erzählt in eindringlichen Bildern die Geschichte italienischer Auswanderer nach Libyen, die als Flüchtlinge wieder zurück nach Italien mussten und dort nie heimisch geworden sind, und das Schicksal afrikanischer Flüchtlinge, die vor Gaddafi nach Italien flüchten und dort entweder erst gar nicht ankommen oder in menschenunwürdigen Zuständen leben müssen. Ein sehr poetischer geschriebener politischer Roman, dessen Bilder lange nachwirken.

Farid ist Grundschüler und Nachkomme nomadisierender Beduinen in Libyen. Er hat eine kleine Gazelle an sich gewöhnt, die regelmäßig bei ihm auftaucht. Sein Vater Omar wird eines Tages vor seinen Augen von Regierungstruppen vom Dach gestoßen, weil er sich weigert, mit ihnen zu kämpfen. Farid sieht ihn vom Dach fallen.
„Farid sah … die schmutzigen fanatischen Gesichter, die grünen Fahnen um die Köpfe. Sie töteten auch die Tiere, zur Abschreckung.
An dem Tag war die Gazelle zum Glück nicht da. Sie kam nur bei Stille.“

Danach macht sich seine Mutter Jamila mit ihm auf den Weg nach Europa, zunächst zu Fuß durch die Wüste und dann per Boot übers Mittelmeer, eine Reise, organisiert von Schlepperbanden. Das Trinkwasser wird immer knapper und Jamila hat zum Schluss nur noch den Wunsch, länger durchzuhalten als ihr Sohn, um ihn nicht allein sterben zu lassen.

In Italien erlebt der achzehnjährige Vito, wie die Flüchtlinge in Italien an den Strand und in die Lager gespült werden:
„Er hat sie gesehen, die überladenen Boote, stinkend wie Makrelenbüchsen. Die jungen Männer aus Nordafrika, die Entkommenen aus Kriegen, Flüchlingslagern, und die ungebetenen Gäste. … Er hat die Kraft dieser Verzweifelten gesehen.“
Und er erlebt die Angst der Italiener vor diesen Fremden.
„Man weiß ja nie, wen man da rettet, vielleicht einen Gauner. Einen der einem dann das Handy klaut, der betrunken auf der falschen Straßenseite fährt oder ein Mädchen vergewaltigt, eine Krankenschwester, die vom Nachtdienst kommt.“

Eines Tages findet er am Strand einen Lederbeutel. Seine Mutter „weiß, dass das ein Glücksbringer ist. Dass die Mütter in der Sahara sie nachts unter dem Schutz der Sterne anfertigen und sie ihren Kindern um den Hals hängen, um den bösen Blick des Todes abzuwehren.“
Sie weiß es so genau, weil sie mit ihren Eltern in Libyen gelebt hat, bis sie nach Italien fliehen mussten, als Gaddafi an die Macht kam. Als Gaddafi dann „Freund Berlusconis und Italiens“ ist und mit „seiner Amazonen-Leibgarde und seinen Seidenpantoffeln zu Besuch“ nach Italien kommt, kann Vito mit seiner Mutter Angelina und der Großmutter Santa nach Libyen fliegen, wo die beiden Frauen auf den Spuren ihrer Vergangenheit nach Vertrautem suchen:
„Sie waren zunächst zaghaft, dann wie verrückt, in das Netz der Erinnerungen geschlüpft. Zwischen Wut und Freude hin und her flatternd. Ihre Haare wirr, ihre Augen voller Blitze, in ihnen schien sich die Angst jener Zeit und jenes Hungers zu spiegeln.“

Nach dieser Reise beginnt Vito Strandgut zu sammeln: „Eine Tagebuchseite in arabischer Sprache, einen Hemdsärmel, den Arm einer Puppe… Er weiß nicht warum er das tut. Er sucht einen Ort. Will etwas festhalten. Die nicht ans Ziel gelangten Leben.“ Seiner Mutter sagt er: „Ich habe einen Schiffbruch festgehalten.“

Margaret Mazzantini, Das Meer am Morgen, a.d.Ital. v. Karin Krieger, 128 S., ISBN 978-3-8321-9684-4

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