Christina Krüsi, Das Paradies war meine Hölle

Christina Krüsi, Das Paradies war meine Hölle

„Guten Tag, ich bin die Wahrheit.“ Und die will beachtet werden!

Doch Christina Krüsis Wahrheit ist „zu schwer, zu hässlich, abscheulich, ekelhaft und dunkel“ als dass sie diese ans Licht holen will. Doch eines Tages lässt sie sich nicht mehr unterdrücken, denn Christinas geschändeter Körper macht – lange nach den Ereignissen – einfach nicht mehr mit. Er zwingt sie, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ihr passiert ist, was sie aber lange, lange Zeit verdrängt hat. Es geht nicht mehr nur ums Überleben und Funktionieren, denn das hat Christina geschafft. Sie lebt da mittlerweile in der Schweiz, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Aber nie hat sie ausgesprochen, was ihr widerfahren ist, nie ist sie über Andeutungen hinausgekommen, da sie gemerkt hat, keiner würde ihr glauben.

Christina hat als Kind mit ihren Eltern lange in einer Missionsstation im Urwald Boliviens gelebt. Sie wird bei einem Überfall während eines Halloween-Festes von einem Bewohner der Missionsstation brutalst vergewaltigt und durch Schnitte in beide Knie gekennzeichnet. Ab da ist sie Freiwild für jeden (jungen) Mann, der sich ihrer bedienen will.

Jahrelang wird sie auf unterschiedlichste Weise missbraucht und gezwungen, an furchtbaren Ritualen teilzunehmen, ohne sich jemandem anvertrauen zu können. Dafür haben ihre Peiniger gesorgt, die mit allen möglichen perfiden Drohungen dem Kind vor Augen führen, was passiert, wenn sie jemandem etwas erzählt. Sie haben absoluten Gehorsam von ihr gefordert. Hinzu kommen eigene Schuld- und Schamgefühle sowie die Vorwürfe der Peiniger, sie habe sie zu ihren Handlungen provoziert.
Christina überlegt sich diverse Strategien, ihren Peinigern zu entkommen, es ihnen zumindest zu erschweren, sie zu missbrauchen. Sie entwickelt eine eigene Sprache, in der sie die Ereignisse festhält. Sie malt verklausuliert, was ihr passiert ist, was sie erlebt hat. Musik und Tanzen sind Möglichkeiten, sich selbst zu spüren, sich auszudrücken und so nicht ganz verloren zu gehen. Und irgendwann ist sie einfach zu alt für die Täter.

Später, in der Schweiz, reifen in ihr zudem Vorstellungen von einem eigenverantwortlichen Leben in Freiheit und Selbstbestimmtheit, die so gar nicht zu den (moralischen) Vorstellungen der Glaubensgemeinschaft passen wollen, die alles daran setzt, dass ihre Mitglieder gehorchen und nicht abtrünnig werden. Doch Christina wird „abtrünnig“ und nimmt die „Strafen“ dafür in Kauf: Ausgrenzung, Missachtung und auch den Kontaktabbruch zu ihren Eltern, die ihr nicht glauben wollen oder können. Sie heiratet sogar einen „unchristlichen“ Mann.

Ihr Leben scheint in Ordnung zu sein, bis ihr Körper die Notbremse zieht und Christina zwingt, sich bewusst mit ihren Vergewaltigungen, ihren Ängsten und Demütigungen auseinanderzusetzen. Sie vertraut sich zunächst einer Freundin an, die das einzig Richtige macht: da sein und zuhören. Jetzt geht es für Christina darum, wirklich gesund, heil zu werden und in Freude zu leben. Das heißt auch, aus der Spirale der Schuldgefühle herauszufinden und damit den Tätern ihre Macht zu nehmen, damit auch die Seele gesund werden kann:

DIE TÄTER TRAGEN VON NUN AN DIE VOLLE VERANTWORTUNG FÜR IHR HANDELN; ICH BIN FREI VON ALLER SCHULD!!!

Das schreibt die Autorin irgendwann einmal wutentbrannt auf einen Zettel. Sie bringt viel Zeit, Kraft und viel, viel Mut auf, sich dem erlebten Grauen zu stellen und ihre Ängste zu verarbeiten. Dabei werden ihr auch allmählich auch ihre Ressourcen und ihr eiserner Wille bewusst. Sie findet Zugang zu ihren Träumen und Wünschen, entwickelt konkrete Zielvorstellungen und sucht nach Hilfe und Unterstützung. Und ihr gelingt das, was sie sich vorgenommen hat.

Dieses Buch schildert Grauenhaftes und Bewundernswertes zugleich. Es macht zum einen deutlich, in welchem „geistigen“ Klima solche Missbräuche gedeihen können, wie schutzlos Kinder Erwachsenen ausgeliefert waren und wie einsam und allein sie gelassen wurden, weil ihnen niemand geglaubt hat, dass die allgemein angesehenen „Onkel“ so etwas tun könnten. Zum anderen wird erkennbar, wie die Autorin in der Lage war, Auswege zu suchen und zu finden, und sich sogar für andere einzusetzen. Sie hat offensichtlich mit ihrer Kindheit ihren Frieden gemacht und zeigt auf, dass und wie dieser Weg auch anderen möglich ist, die den Glauben an sich nicht aufgeben. Ein starkes, Mut machendes Buch!!

Christina Krüsi, Das Paradies war meine Hölle. Als Kind von Missionaren missbraucht. München 2013, 285 S., ISBN 978-3-426-78565-2

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