Jon Bauer, Steine im Bauch
„Ich habe immer behauptet, ich sei ein Pflegekind. Als ich noch klein war, habe ich es jedem Fremden erzählt, bis es sich wie eine Gewissheit in mir festsetzte. Eine Gewissheit, die noch heute da ist und mich daran hindert dazuzugehören.“
Der Ich-Erzähler dieses Debütromans von Jon Bauer wollte immer Pflegekind seiner Mutter sein, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, Liebe und Zärtlichkeit zu bekommen, die ihm aus seiner Sicht vorenthalten wird, weil immer Pflegekinder im Haus sind. Sein Hass, seine Wut, seine Eifersucht steigern sich maßlos, als Robert ins Haus kommt, der sich vorbildlich, angepasst und außerordentlich nett verhält, ganz zur Freude seiner Pflegemutter. „Robert … sah aus, als liebte er sie maßlos, dabei gab er sich nur maßlose Mühe, geliebt zu werden.“
Der Ich-Erzähler versucht mit eher „unpassenden“ Mitteln, auf sich aufmerksam zu machen und greift in seiner Verzweiflung zu immer härteren, brutaleren Mitteln: Er widersetzt sich, reizt die Eltern, zündet sich und Spielzeug an, versucht die Katze in der Waschmaschine zu waschen, prügelt sich und macht mit acht Jahren noch immer ins Bett.
Das, was er erreicht, ist das Gegenteil von dem, was er erreichen will. Seine Mutter schlägt ihn, weist ihn von sich, schweigt und wendet sich dem Pflegekind zu. Keiner sieht und versteht die Not dieses Kindes, das sich mit immer brutaleren Mitteln Gehör verschaffen will und doch in seiner Einsamkeit nicht gesehen wird.
Einzig der Vater hat ein gewisses Verständnis für ihn, unternimmt allein mit ihm etwas, versucht ihn zu trösten, steht aber auch abseits, denn die Liebe der Eltern scheint zunehmend zu erkalten, ist die Familie doch durch Roberts Unfall, der ihn zum Spastiker werden lässt, extrem belastet. Nur der Leser weiß, dass der Ich-Erzähler den „Unfall“ verursacht hat.
Der Roman beginnt mit der Rückkehr des 28jährigen Sohnes, als seine Mutter sterbenskrank ist. Sie ist inzwischen Witwe und lebt ganz allein in ihrem Haus. Es ist ein Pflichtbesuch, der Umgang miteinander befremdlich distanziert, das Verhalten, die Aggressivität des Sohnes sind kaum nachvollziehbar, bis sich dem Leser das Leben des Sohnes mit und in seiner Familie durch Rückblicke in seine Kindheit nach und nach erschließt. Es ist eine Geschichte „verletzter Menschen, die Menschen verletzen“ und vor allem nicht miteinander reden können.
Nach dem Tod der Mutter findet der Sohn Aufzeichnungen. „Es ist weniger ein Brief als eine Reihe aufgegebener Ansätze und Absätze.“ – der Versuch der Mutter, in einem Brief an ihn ihr Verhältnis zu ihrem Sohn zu klären, einen Brief, den sie aber nie abgeschickt hat.
Der Roman beeindruckt mit der Darstellung dieser kindlichen Jugenseele, die Erschrecken über die Taten und gleichzeitig Empathie für den kindlichen Täter hervorruft. Es ist ein bis zum Schluss spannender gut geschriebener Roman, der immer wieder neue Mosaiksteinchen der Familiengeschichte zum Vorschein bringt, die im Nachhinein Verständnis für die Personen ermöglichen, die alle dringend Hilfe benötigt hätten.
Jon Bauer, Steine im Bauch, Roman, a.d. Engl. v. Bernhard Robben, Kiepenheuer & Witsch, 2. Aufl. Köln 2015, 365 S., ISBN 978-3-462-04652-6
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