Jocelyne Saucier, Ein Leben mehr

Jocelyne Saucier, Ein Leben mehr

„Ein Leben mehr“ ist „die Geschichte von drei alten Männern, die sich in den Wald zurückgezogen haben. Drei Männern, die die Freiheit lieben.
‚Man ist frei, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt.‘
‚Und wie man stirbt.'“

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Aber keine Sorge, es ist ein Roman vom Leben und vom Lieben, nicht (nur) von Tod und Sterben, auch wenn die drei Männer zusammen fast zweihundert Jahre alt sind. Zwar hockt der Tod die gesamte Geschichte über in seinem Versteck, doch:
„Um den Tod muss man sich keine Sorgen machen, er lauert in allen Geschichten.“

Denn vorerst geht es ums Leben, zunächst um das der zurückgezogen lebenden Männer in ihrer Wildnis, denen es Spaß macht zu verfolgen, „wie die Welt ohne sie zurechtkam“, immer auf der Hut vor Sozialarbeitern oder sonstigen Gesetzesvertretern.

Abgeschirmt werden Charly, Tom und Ted von Bruno, einem Hanfplantagenbesitzer, und Steve, einem Hotelpächter, dessen Besitzer sich schon seit Jahren nicht mehr hat blicken lassen. Eines Tages taucht eine Fotografin in dieser Wildnis auf, die Überlebende der Großen Brände zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts im Norden von Ontario sucht, mit ihnen sprechen und sie portätieren will. Und Bruno bringt von einer Familienfeier seine alte Tante mit, die auf keinen Fall wieder zürück in die Anstalt will, in der sie nahezu ihr gesamtes Leben verbracht hat.
„Seine Tante war anders, sie lebte in ihrer eigenen Welt, und Bruno mag eigene Menschen.“ Sie will und soll bleiben, sie, die alles zum Leuchten bringt.

„Die alte Dame mit dem luftigen Haar und den Fingern wie Spitzendecken wirkte zerbrechlich wie ein Vögelchen. Er hatte das Gefühl, er müsse nur einmal fest pusten und das Vögelchen würde von seinem Holzklotz fallen. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Er wollte das Vögelchen nicht umpusten, er wollte es lieber zurück in sein Nest setzen. Dieser Gedanke erschreckte ihn noch mehr.“

Die alte Dame bleibt unter falschem Namen, erhält ihr „Nest“ und das Leben in der Wildnis verändert sich entscheidend für die Beteiligten. Wie, das muss man selbst in Erfahrung bringen.

Die Fotografin verlässt für ihre Arbeit immer wieder diese Wildnis, kehrt aber stets zurück, da sie in Marie-Desneige, wie Brunos Tante sich nun nennen lässt, unverhofft eine große Hilfe für ihre Arbeit findet. Denn sie sieht Dinge, die andere nicht sehen. Die Fotografin, die scheinbar kein eigenes Leben hat, so mutmaßen es zumindest die Waldbewohner, die nicht verstehen, weshalb sie so hinter den Lebensgeschichten alter Menschen her ist, begegnet bei ihren Recherchen jemanden, bei dem sie „ahnte, dass irgendwo im Inneren dieses großen Mannes einen Ort gab, an dem die sich zu Hause fühlen könnte, an dem sie willkommen war. Sie sah zwei Arme, die sie umfingen und festhielten.“

Die Alten aus dem Wald hat sie später aus den Augen verloren. Der Leser erfährt warum und auch, wie es nach dem Nestbau von Charly und Marie-Desneige weitergeht. Und nur derjenige, der den Roman liest, weiß, weshalb einem der folgende, scheinbar so banale Satz ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wie übrigens weite Passagen dieses Romans, der einem an vielen Stellen das Herz aufgehen lässt:

„Jeden Moment werden die Dorfbewohner von ihrer Arbeit in der Stadt zurückkehren. Dann beginnt die tägliche Parade der Autos.“

Jocelyne Saucier, Ein Leben mehr, Roman, a.d.Franz. v. Sonja Finck, Insel Verlag, Berlin 2015, 192 S., ISBN 978-3-458-17652-7

3 Gedanken zu „Jocelyne Saucier, Ein Leben mehr

  1. Deine wohl gelungene Rezension gefunden. Das Buch stand eh schon auf meinem Wunschzettel. Und so wahr: der Tod lauert am Rand aller Geschichten, jeden Lebens…
    Gruß von Sonja

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