Aris Fioretos, Mary

Aris Fioretos, Mary

Mary erzählt ihre Geschichte:
„Ich wurde Maria getauft. … Laut Pass bin ich dreiundzwanzig. Vor ein paar Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein würde so alt zu sein; jetzt studiere ich bereits im letzten Studienjahr Architektur. Nur die Examensarbeit steht noch aus. … Ich weiß nicht. ob ich Bauingenieurin, Landschaftsarchitektin oder einfach Architektin werde. Ich vermute, einfach Architektin; zumindest würde ich mir das wünschen. Als ich klein war, wurde ich Tochter oder Marienkäfer genannt, gelegentlich auch Poliomädchen – die Krankheit erklärt mein Hinken. Ich wurde auch mit anderen Namen gerufen, habe aber nicht vor, hier auf sie einzugehen. Dimos nennt mich Mary. Von nun an werde ich so heißen.
Mary. Die Reservierte.“

Und Mary ist sich sicher, „eine Sonne im Unterleib zu tragen, zitternd wie eine geballte Faust Jubel.“

(Copyright Carl Hanser Verlag)

„Mary“ ist eine weibliche Entwicklungsgeschichte, an deren Ende – nach Folter und mehrfacher Isolationshaft – von der ursprünglichen Mary nicht mehr viel übrig bleibt. Das, was so hoffnungsfroh beginnt, auf eine spannende Zukunft hinweist, endet jäh, als Maria während der Studentenunruhen entführt und inhaftiert wird.

Sie war auf dem Weg zu Dimos, ihrem Freund und Vater ihres ungeborenen Kindes, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Dieser ist einer der Anführer, die für den Aufstand der Studenten verantwortlich sind. Sein Schicksal bleibt offen, so wie auch Mary nichts darüber weiß.

Die Liebesgeschichte der beiden, die der Leser nach und nach durch die Erinnerungen Marys nacherleben kann, spiegelt gleichzeitig die Geschichte eines Landes unter einer Militärdiktatur griechischer Prägung in den 80iger Jahren wider, obschon Griechenland nicht erwähnt wird. Die zarten Annäherungen der beiden steht im krassen Widerspruch zu den Behandlungen Marys und der anderer Frauen durch die Verhöroffiziere und ihre Folterknechte, wenn die Inhaftierten sich weigern, die gewünschten Informationen zu geben und eine Loyalitätsbekundung zu unterschreiben.

Mary, die standhaft versucht ihre Schwangerschaft – auch vor den Augen anderer Frauen – zu verbergen, ist hin und hergerissen zwischen der Freude über das Wachstum ihrer Sonne, die sie mal als Pflaume, als Aprikose, Apfelsine oder Pfirsich bezeichnet und der Angst, dass diese entdeckt wird bzw. ihr Ungeborenes durch Folter und die Entbehrungen im Gefängnis Schaden nimmt. Die anderen Frauen bemerken allerdings schnell, was mit Mary los ist, und reagieren sehr solidarisch, ohne darüber zu reden.

Doch dann ist die Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen und Mary wird vor eine grausame Entscheidung gestellt:

DIMOS ODER DER PFIRISCH. Es gibt Entscheidungen, die so unmöglich sind, dass man lieber verschwinden würde, als sie zu treffen.“

Und Mary sucht nach einer Entscheidung. „Wenn ich mich dabei ertappe, nach einer Lösung zu suchen, fühle ich mich wie eine Schlange, die sich selbst verzehrt.“ Und sie trifft eine grausame Entscheidung.

Mary ist ein Roman über die Folgen einer Diktatur für die Bevölkerung, die unter ihr leiden und von ihr profitieren, von grausamen Foltermethoden körperlicher und psychischer Art, die sprachlich verschleiert werden als „Teestunden mit Gebäck“, mit „Polizeijuwelen“ als Folgen etc. Über die Ungewissheit, was mit den Inhaftierten passiert.

Es ist aber auch ein Roman über gelebte Frauensolidarität unter dieser Militärdiktatur, über ihre Möglichkeiten mit den langen Tagen ihrer Inhaftierungen und den damit verbundenen Ungewissheiten und Hoffnungen umzugehen.

Auf jeden Fall ist es kein Roman für sehr zart besaitete Leser. Zwar werden die Gewalttaten nicht in allen Einzelheiten dargelegt, doch lassen die Aussparungen genug Freiraum für eigene Phantasie. Dennoch ist es ein lesenswerter, ein wichtiger Roman.

Aris Fioretos, Mary, Roman, a.d.Schwedischen v. Paul Berf, Carl Hanser VerlagMünchen 2016, 350 S., ISBN 978-3-446-25270-7

4 Gedanken zu „Aris Fioretos, Mary

  1. Ein solches Buch zu lesen ist mir unmöglich. Immer wieder will ich nicht glauben, dass die Welt so sein kann. Klar, ich weiß es besser, will aber das Böse nicht „rein“ lassen…

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