Ulla Hahn, Wir werden erwartet

Ulla Hahn, Wir werden erwartet

„Aller guten Dinge sind drei.“ – heißt es. Manchmal darf es ruhig eins mehr sein!

Der vierte Band von Ulla Hahns „autobiografischem Epos“ – so der Verlag – ist nun erschienen. Wie immer eine sehr unterhaltsame, in Ulla Hahns spezifisch poetischer Sprache geschriebene Lektüre, für die man dennoch einen langen Atem haben muss. Dieser Roman setzt dort an, wo der dritte Roman geendet hat:

„Lommer jon, sagte der Großvater, sagt er noch einmal, und griff in die Luft, greift er noch einmal, zum letzten Mal, denn ich muss die Geschichte weitererzählen, die Geschichte von Hilla Palm und Hugo Breidenbach. Die Zeit drängt. Drängt in mich hinein in das Ende dieser Geschichte, ein Ende, vor dessen Anfang ich zurückschrecke, wie der Arzt vor dem Schnitt. Ohne Betäubung.Der Patient bei vollem Bewusstsein, doch allein der schmerzhafte Schnitt ist das Mittel zur Rettung.“

Diese ersten Sätze und das Zitat von Dylan Thomas: „And death shall have no dominion.“ verweisen schon auf die Katastrophe, die in Hilla Palms Leben einbrechen wird. Ihr Vertrauter, offiziell ihr Verlobter, Hugo Breidenbach, kommt bei einem Verkehrsunfall ums Leben und sie erhält von seiner Familie, die sie immer als nicht standesgemäß abgelehnt hat, keine Möglichkeit, sich von ihm zu verabschieden. Sie darf an der Beerdigung nicht teilnehmen.

Immer noch in Köln, versucht sie mit diesem Verlust des Mannes, der offensichtlich alles in ihrem Leben gewesen ist, mit dieser Leere, dem Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit weiterzuleben.

Sie trifft auf Marga und glaubt in ihr eine Leidensgenossin gefunden zu haben.

„Ihr meine Geschichte zu erzählen, vor allem meine Geschichte mit Hugo, tat in ihrer Gegenwart nicht weh. Nicht mehr weh. Ich ahnte die Schicksalsgefährtin in ihr und war begierig, ihre Geschichte zu erfahren.“

Mit ihr beginnt sie sich politisch zu engagieren, liest Marx und Engels, folgt Marga nach Hamburg, will dort promovieren und wird später sogar Mitglied in der DKP. Hilla Palm glaubt, hier mit den Genossen, in und mit dem gemeinsamen Engagement eine neue Heimat gefunden zu haben.
„Ich glaubte mich gerettet. Hoffte, endlich die Welt zu erkennen, wie sich Liebende erkennen und vertrauen, voll und rückhaltlos, und alles, was ich zukünftig tat und erlebte, würde von dieser Erkenntnis und diesem Vertrauen geleitet sein. Hoffte ich.“
Doch: Man achte auf die sprachlichen Feinheiten: den Konjunktiv II!.

Durch ihr Engagement in der Partei und das damit einhergehende Verständnis und Mitgefühl für die kleinen Leute, ihre Erinnerungen daran, woher sie kommt, nähert sie nach und nach ihren Eltern an, besonders ihrem Vater, wie sie es sich kaum hätte vorstellen können:

„Ich sah den Vater mit den Augen der Liebe. Nicht allein mit den Augen einer liebenden Tochter. Den liebesbedürftigen Menschen erblickte ich in meinem Vater, den kleingehaltenen Mann, der im Leben nie eine Chance gehabt hatte, etwas aus sich zu machen. Etwas aus sich zu machen: welch ein zutreffendes Sprachbild. Damit sich das für ihn und seinesgleichen ändern würde, dafür würde ich kämpfen.“

Doch nach und nach stellt sie immer mehr Parallelen zwischen den ihr hinlänglich bekannten Glaubensgeboten und -verboten der katholischen Kirche und der Partei fest. Bemerkt, dass eine eigene Meinung nicht wirklich erwünscht ist und von ihr verlangt wird, dass sie Zusammenhänge so zu sehen, zu interpretieren hat, wie die Partei es will. Zweifel entstehen. Den Rest gibt ihr eine Fahrt zu den Genossen nach Ost-Berlin. Sie erlebt das durchgängige Bespitzelungssystem in der DDR und die Auswirkungen auf die Bevölkerung hautnah. Sie pocht auf ihr ihr eigenständiges Denken und ihre Sprache und will sich das nicht bieten, vor allem nicht verbieten lassen. Die Distanz zu den Genossen wird immer größer, Hilla zieht sich immer mehr zurück und gibt letztlich ihr Parteibuch wieder ab.

„Genossin Palm. Auch diese Rolle hatte ich ausgespielt. Meine Gewissheiten hatte ich verloren, nicht aber meine Träume. Mein Platz im Leben würde sein, keinen Platz zu haben. Und der einzige Platz für keinen Platz ist der Platz am Schreibtisch. Wo ich mich täglich wandeln kann, mich nicht festlegen muss. Tausend leben leben kann, in denen das meine verschwindet – und überall wieder auftaucht. In jeder Silbe.“

Und immer wieder schreibt sie Gedichte, versucht in ihrer Sprache eine Heimat zu finden, überzeugt davon, dass es vielleicht eine Welt ohne Gott, nicht aber ohne Wort geben kann.

„Ich gewann sie mir zurück, die Literatur, die Kunst als eigenständig-selbstständiges Medium von Wirklichkeitsaneignung und Bewusstseinserweiterung. … Kunst muss nicht nützlich sein, sondern unentbehrlich.“

Mit diesem letzen Band ist Ulla Hahn eine überaus lesenswerter, für mich trotz der Länge kurzweiliger Roman gelungen, der neben den biografischen Elementen der Hilla Palm und ihrer Familie die Zeit nach 1968 lebendig werden lässt, mit all den langatmigen Diskussionen ums „richtige Leben“. Stellenweise ermüdend in der Ausführlichkeit, die jedoch gemildert wird durch den zeitweise ironisch heiteren Unterton, mit denen sie sprachlich in Distanz zu den dargebotenen Inhalten geht. Mir gefällt zudem ihre Sprache und die in den Fließtext eingearbeiteten Gedichte, die einfach „Appetit“ auf mehr machen.

Ulla Hahn, Wir werden erwartet, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, 633 S., ISBN 978-3-421-04782-3

4 Gedanken zu „Ulla Hahn, Wir werden erwartet

  1. Von ihr kenne ich nur den ersten dieser vier Bände.
    Ich las zuvor vor allem ihre Lyrik so gerne: Freudenfeuer, Herz über Kopf und wie sie alle heissen…
    Und ich erlebte sie mal in Lenzburg an einer Werkstattlesung und liess mich begeistern.
    Danke für den Hinweis und liebe Grüsse in den wohl wieder heiss werdenden Tag,
    Brigitte

  2. Ich habe schon viel von ihr gelesen, sie selbst habe ich leider live noch nicht erlebt.
    Gestern war’s sehr angenehm sommerlich, warm mit ein wenig Wind, also nicht schwül. Ich genieße es!
    Schön, dass du wieder vorbeikommst ;)

  3. Viele meiner Fragen ans Leben werden hier „behandelt“ – werde es wohl lesen, dabei an Verfilmtes denken. Es war die rheinische Sprachmelodie zu hören…
    Gruß von Sonja

  4. Ja, und noch viel mehr Themen werden angesprochen, die ich in einer solchen Rezension gar nicht unterbringen kann oder will – wer liest denn solch ellenlange Besprechungen? ;) eine weitere Rezension findet man im Spiegel, natürlich mit völlig anderem Schwerpunkt.
    Mir hat die Lektüre so einiges geboten!!!

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