Tommi Kinnunen, Wege, die sich kreuzen

Tommi Kinnunen, Wege, die sich kreuzen

„Wege, die sich kreuzen“ ist Tommi Kinnunens erster Roman, ein ungewöhnlich erzählter, sehr spannender Familienroman, in dem – im Gegensatz zu den sonst üblichen Romanen – die Frauen die dominante Rolle spielen.

Der Roman beginnt im Jahre 1996 im Gesundheitszentrum einer Kleinstadt im Norden Finnlands. Lahja, die Tochter Marias, einer unkonventionellen, emanzipierten, alleinerziehenden Hebamme, liegt im Sterben. Bei ihr sind ihr Sohn Johannes und seine Frau Kaarina, die Lahja immer noch siezt, obwohl sie mehr als vierzig Jahren in einem Haus gewohnt haben.

Vor Lahjas Augen steigen augenscheinlich Erinnerungsfetzen an ihren bereits verstorbenen Ehemann Onni und an ihre Mutter Maria auf. Lahja bittet ihren Mann um Verzeihung, für etwas, das der Leser aber zu diesem Zeitpunkt nicht einordnen und daher auch nicht verstehen kann. Und dennoch enthält dieses einleitende Kapitel die gesamte tragische Familiengeschichte – vom Ende des Romans her klar und verständlich.

Die vier großen Kapitel tragen die Namen derjenigen, deren Wege sich kreuzen. Da ist zunächst Maria, Hebamme von Beruf, unkonventionell, emanzipiert und alleinerziehend, von den meisten Bauern, zu deren Frauen sie gerufen werden, abgelehnt, denn sie hat kein Problem damit, ihnen die „Leviten“ zu lesen, damit sie ihre Frauen nach der Geburt zur Ruhe kommen lassen und sie nicht gleich wieder schwängern.

Sie ist der Meinung, „dass man niemanden brauchen sollte, weil er für irgendetwas gebraucht wird, sondern um seiner selbst Willen. Sie ist „zufrieden, dass sie sich an keinen Mann gebunden, aber dennoch ein Kind bekommen hat. Bei dem Gedanken, jemand könnte sie herumkommandieren, schaudert es sie, ebenso bei der Vorstellung, irgendein Dickwanst würde sie besteigen, wann immer es ihm beliebte, und auch sonst bestimmen, was sie zu tun hätte und in welchem Tempo.“

Lahja will sich nicht von ihrer Mutter ernähren lassen und ihren Lebensunterhalt als Fotografin bestreiten. Sie muss dafür kämpfen, überhaupt die Chance einer Lehrstelle zu bekommen. Die Vorurteile Frauen gegenüber sind immer noch immens. Doch sie schafft es, obwohl auch sie ein uneheliches Kind hat. Die drei leben in einem Haushalt und in einem eigenen Haus. Maria kümmert sich liebevoll um ihr Enkelkind. Lahja lernt Onno, ihren späteren Mann und liebevollen Vater ihrer beiden gemeinsamen Kinder Johannes und Helena, während ihrer Arbeit kennen.

Später kehrt Onno aus dem zweiten Weltkrieg zu Frau Kindern und der Schwiegermutter zurück, die wie viele in einer Erdhütte wohnen. Er verhält sich wie viele Männer:

„Schweigsam kehrten die Männer von den Fronten zurück. Ausdruckslos betrachteten sie das niedergebrannte Dorf, als wäre dessen Zerstörung ein selbstständiges Ereignis, losgelöst und unabhängig von dem Krieg, in dem sie gekämpft hatten. Das Ausmaß der Zerstörung war schwer zu begreifen.“

Er widmet sich mit all seinen Kräften und seiner Aufmerksamkeit dem Bau eines Hauses für sich, seine Familie und die Schwiegermutter und seinen Kindern, mit denen er sehr liebevoll und gerne zusammen ist. Es soll das größte und schönste, mit der besten Aussicht werden.
Offensichtlich bleibt nichts an Aufmerksamkeit und Zuneigung für seine Frau übrig. Onn scheint Geheimnisse zu haben. Eine heimliche Geliebte? Denn immer wieder zieht es ihn für in paar Tage in die größere Stadt.

Kaarina ist Johannes Frau, dem gemeinsamen Kind von Lahja und Onno, die nach der Hochzeit mit im Haus lebt. Sie beschreibt aus ihrer Perspektive das Zusammenleben dieser so ungewöhnlichen Familie. Die lebt zwar unter einem gemeinsamen Dach, doch das scheint schon beinahe alles an Gemeinsamkeit zu sein, mögen tun sich die Mitglieder nicht wirklich:

„Das gewaltige Haus hatte sich mit Stille und höflicher Rücksichtnahme gefüllt, wo eine offen stehende Tür vorsichtshalber leise zugemacht wurde. Zuletzt saß jeder auf seiner eigenen Bettkante, horchte auf die vorsichtigen Bewegungen der anderen und wartete darauf, dass jemand zu Besuch käme. Sich vielleicht zu einem aufs Bett setze und fragte, wie der Tag verlaufen sei. Doch nie schaute jemand vorbei, denn sie alle waren Gefangene der zugeschobenen, aber schlosslosen Türen.“

Onni ist dann der letzte, der durch seinen Beitrag zur Familiengeschichte Licht in die noch unausgeleuchteten Ecken dieser Familie bringt. Das Mosaik wird zunehmend zu einem vollständigen (Familien-) Bild mit tragischem Ausgang.

Der Roman ist sehr unprätentiös, die Handlung nicht einfach chronologisch linear erzählt. Die einleitenden Hinweise, die verschiedenen, klar subjektiven Perspektiven auf das Familienganze geben dem Leser die Chance, sich ein ein eigenes Bild zu machen bzw. das dargebotene Bild zu beurteilen, wenn er denn einen Standpunkt einnehmen will.
Das Tragische scheint mir zu sein, dass man jeden versteht und auch nachvollziehen kann, weshalb sie nicht wirklich in Kontakt kommen: Sie reden einfach nicht miteinander, über das, was sie im Inneren bewegt. Sie sind verstummt. Sie reden höchstens noch übereinander.

Ein ungewöhnlicher, äußerst lesenswerter unterhaltsamer Roman!

Tommi Kinnunen, Wege, die sich kreuzen, Roman, a.d. Finnischen v. Angela Plöger, DVA München 2018, 331 S., ISBN 978-3-421-04771-7

4 Gedanken zu „Tommi Kinnunen, Wege, die sich kreuzen

  1. Schon bestellt, meist mach ich das mit hoher Zufriedenheit über booklooker. Freu mich schon auf das Buch – gerade „Hain“ von Esther Kinsky am lesen, finde es enttäuschend bis auf einige herausragende kleine Abschnitte. Eben nicht mein Lesegusto.
    Gruß von Sonja

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