Michael Ondaatje, Kriegslicht

Michael Ondaatje, Kriegslicht

Was bitte muss man sich unter „Kriegslicht“ vorstellen? Licht und Krieg – die Begriffe könnten gegensätzlicher nicht sein. Sie lösen Verwirrung oder im besten Falle Fragezeichen aus. So auch der aktuelle Roman von Michael Ondaatje:

„Wenn die Wunde schlimm ist, kann man nicht darüber sprechen, kann man kaum darüber schreiben. … doch … weiß auch ich, wie man aus einem Sandkorn oder dem Bruchstück einer Wahrheit, das man entdeckt hat, eine ganze Geschichte machen kann. Im Rückblick betrachtet waren die Sandkörner schon immer da.“

Nathaniel ist der Ich-Erzähler, der sich als „ahnungsloser Sohn ohne Eltern“ mit den Bruchstücken der Nachkriegs-Geschichte und -damit eng verbunden – der seiner eigenen Familie beschäftigt. Er versucht ein verstehbares Ganzes daraus zu machen, wohl wissend, dass er nicht alles zusammenfügen kann. Er ist sich bewusst, „die sich allmählich entfaltende, halb geträumte Geschichte“ wird lückenhaft und darum nicht ganz verständlich und nachvollziehbar bleiben.

Zunächst erzählt er von seiner Jugend in den Nachkriegswirren in England. Von den Eltern allein gelassen, lebt er mit seiner Schwester Rachel im Elternhaus, beaufsichtigt von dem „Falter“, einer höchst mysteriösen, undurchsichtigen Person und den vielen, unbekannten Besuchern im Haus. Sein Vater und seine Mutter seinen für unbestimmte Zeit im Ausland, etwas, was der Vierzehnjährige und seine Schwester glauben, bis der Überseekoffer seiner Mutter, den sie im Beisein der Kinder gepackt hat, im Haus gefunden wird. Da ist den beiden Kindern klar: Sie ist nicht da, wo sie vorgab zu sein. Rachel verzeiht ihrer Mutter diese Lüge nie.

Nathaniel nutzt die Situation für sich, beginnt die Schule zu schwänzen, eigenes Geld durch Gelegenheitsjobs zu verdienen, verliebt sich in Agnes und verbringt ganze Nächte mit ihr in verlassenen, zum Verkauf stehenden Häusern und begleitet den „Boxer“ auf seinen nächtlichen Kanufahrten. Seine Schwester geht ihren eigenen Weg, sie, die sie zunächst sehr eng miteinander waren, verlieren zunehmend den Kontakt zueinander:

„Such dir eine eigene Familie.“ Das sind Abschiedsworte seiner Schwester Rachel, als er sie besucht:

„Sie hatte mir nur ihren Sohn zeigen, nicht mit mir sprechen wollen. Ich verließ das kleine Zimmer und befand mich wieder im Dunkeln. Nur unter der Tür, die ich gerade hinter mir geschlossen hatte, war ein schmaler Lichtstreif zu sehen.“

Auf sich allein gestellt, findet er allerdings immer wieder Menschen, die ihn unterstützen. Und eines Tages ist dann auch die Mutter wieder da, die als Funkerin während des Krieges gearbeitet hat. Diese Informationen erhält Nathaniel allerdings nicht von seiner Mutter, sondern durch Recherchen in Archiven. Sie schweigt sich über ihre Tätigkeiten, die Gründe für ihr Untertauchen, über ihr Leben insgesamt aus. Und hat dafür ihre guten Gründe, wie sich im Verlauf des Romans herausstellt:„Manchmal tut Schweigen not.“

Der Roman ist eine Zusammensetzung vieler unterschiedlicher Bruchstücke, die manchmal in ihrem Zusammenhang nicht oder nur kaum erkennbar sind. Doch allmählich schält sich Nathaniels Leben und das verborgene seiner Mutter heraus, mit vielen Lücken, die als solche stehen bleiben müssen. Lange verschollene, geliebte Menschen tauchen wieder auf, doch ein Anknüpfen an das, was war, ist nicht mehr möglich.

Insofern ist der Roman in allen Facetten Abbild der Nachkriegszeit in England, mit allem Hellem und allem Dunklen. Die Lichtmetapher durchzieht den gesamten Roman, in Handlung, Sätzen, Formulierungen und Wörtern wie: Morgendämmerung, Kriegslicht, Lichtschwenk, stockfinster, keine Spur von Licht, flackernde Herdfeuer, Kerzenlicht, Kaminfeuer bei verdunkelten Fenstern, Tarnblenden, Lichtkapseln. Selten ist es einfach nur helles Licht.

Es ist kein einfach zu lesender, dennoch ein faszinierender Roman, dem man ein wenig Zeit lassen muss, bis man sich eingelesen, sich in der seiner Bruchstückhaftigkeit zurechtgefunden hat.

Michael Ondaatje, Kriegslicht, a.d. Engl. v. Anna Leube, Carl Hanser Verlag München 2018, 320. S., ISBN 987-3-446-25999-7

Ein Gedanke zu „Michael Ondaatje, Kriegslicht

  1. Gute. Wollte ich lesen, bevor die Ereignisse mich trafen.
    Es wird lange Zeit nicht gehen, weil mir die Konzentration fehlt.
    Es hilft, diese feine Rezension gelesen zu haben!
    Danke.
    Gruß von Sonja

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