Martin Horváth, Mein Name ist Judith

Martin Horváth, Mein Name ist Judith

Selten stimme ich den Bewertungen auf dem Klappentext eines Buches zu. Dieses Mal schon:
„Mit großem Feingefühl erzählt Martin Horváth von Verfolgung, Flucht und Exil einer jüdischen Wiener Familie und zieht Parallelen zu unserer Zeit – ein kluger, eindringlicher Roman über die Macht des Erzählens und das Vergessen, Vergessen-Wollen und Nicht-Vergessen-Können.“

Der Prolog führt den Leser sehr komprimiert in den gesamten Inhalt dieses vielschichtigen Romans ein:

„Zu der Zeit, als diese Geschichte über mich hereinbrach, lebte ich unter Geistern. Manche davon hatte ich selbst gerufen, andere waren ohne mein Zutun in mein Leben getreten. Wieder andere hatte ich aus Worten geformt und, so glaubte ich jedenfalls auf Papier gebannt.
Zu der Zeit, als diese Geschichte ihren Ausgang nahm, hatte ich meinen Wohnsitz in der Vergangenheit. Ich flüchtete mich aus der Wirklichkeit, ich nährte mich von Erinnerungen, umgab mich mit Büchern statt mit Menschen, und meine Gefühle pendelten zwischen Trauer und Hass. …
Von Toten und Geistern ist hier die Rede, aber auch von Träumen, die echtes Leben vorgaukeln. Es ist die Rede von der Erinnerung und von den Schwierigkeiten, mit ihr zu leben und sie zu bewahren. Vom Gedächtnis, das gern täuscht und trügt und einem mit geschönten Tatsachen zu schmeicheln versucht. …
Wo beginne ich meine Geschichte? Vor mehr als hundert Jahren, als dieses Haus noch nach frischer Farbe roch und eine Familie im Erdgeschoss eine Buchhandlung und im letzten Stock eine Wohnung bezog? Vor fast fünfundzwanzig Jahren, als ich die Nachkommen ebendieser Familie in der neuen Heimat kennenlernte? Vor drei Jahren, als eine Katastrophe mein Leben auf immer veränderte? Nein, ich möchte zur Weihnachtzeit vor einem Jahr beginnen, als eines Morgens plötzlich ein kleines, mir unbekanntes Mädchen in meiner Küche saß.“

Es ist hilfreich, diesen Prolog sorgfältig zu lesen. Er verdeutlicht die gesamte Zeitspanne des Romans, die verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen und die Überschneidungen verschiedener „Realitätsebenen“. Immer wieder stellt man sich mit dem Ich-Erzähler die Frage, ist das, von er gerade erzählt, Erinnerung, Phantasie, Traum oder gleichzeitig von allem etwas.

Klar ist, dass Léon, Ich-Erzähler und Schriftsteller von Beruf, bei einem Attentat im Wiener Hauptbahnhof seine Frau Lydia und seine Tochter Hanna verloren hat. Er lebt seitdem sehr isoliert, von Büchern umgeben, in seiner Wohnung und beginnt erneut mit einem alten Schreibprojekt, einem Roman über Max Klein, der vor Jahrzehnten eine Buchhandlung unten im Haus geführt hat, und in dessen Wohnung er nun lebt. Diesen Roman hat er immer wieder aufgeschoben, ohne dieses Vorhaben gänzlich aufgegeben zu haben.

Mit Max Klein verbindet ihn die Liebe zur Literatur und zu Büchern. Seiner Enkelin Judith, ebenfalls begeisterte Bücherliebhaberin, ist er vor Jahren in New York begegnet. Beide verliebten sich ineinander, ohne aber miteinander zu leben. Sie ist in New York geblieben, er nach Wien zurückgekehrt. Ihr Kontakt zueinander ist schon seit Jahren abgebrochen, als nun Judith, Tochter des Max Klein, als kleines Mädchen, die sie damals zur Zeit der Deportationen durch die Nazis gewesen ist, eines Tages bei ihm in der Wohnung auftaucht.

Und mit ihr melden sich „verdrängte Geister zurück. Die von Max Klein und seiner Familie, aber auch die, die ich gerade erst für meinen neuen Kurzgeschichtenband aus der Flasche gezaubert hatte. Sie saßen auf Schränken und unter Tischen, sie sprangen mich aus Büchern anderer Autoren an, sie lugten aus Fotografien hervor und winkten mir fröhlich zu. Wir haben noch eine Rechnung offen, sagten sie mit diesem gewissen Augenzwinkern. Und pochten sanft, aber bestimmt auf ihre älteren Rechte.“

Léon beginnt die Rechnung zu begleichen und kehrt auf diese Weise, sich erinnernd, recherchierend, schreibend zu den Lebenden zurück.
„Aber damals, zwei Jahre nach der Katastrophe, war ich noch nicht bereit dazu, die Toten gehen zu lassen. Und sie mich ebenso wenig. Ich lebte mit ihnen und sie mit mir, wir hatten es uns wohnlich eingerichtet, und so erstaunt mich Judiths Auftauchen nicht besonders. Ich hieß sie also willkommen in meinem Geisterhaus.“

Der Roman ist die Geschichte des Hauses, der jüdischen Familie Klein, seien sie umgekommen oder noch lebend wie Judith in New York. Es ist gleichzeitig ein Roman über Léons schreibenden Umgang mit seiner Trauer über den Verlust liebster Menschen. Der Roman zeigt gleichzeitig Parallelen zwischen dem braunen Terror in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts und den terroristischen Anschlägen in der Gegenwart auf und verdeutlicht, dass auch heute noch und immer wieder Zivilcourage im Umgang mit Fremden, Flüchtlingen gefordert ist, dass Wegschauen nur denen hilft, die „unter sich“ sein wollen und damit automatisch „die anderen“ ausgrenzen.

Es ist ein Roman, der hohe Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert, um der Handlung folgen zu können. Doch lässt man sich darauf ein, entwickelt er einen zunehmenden Sog, der einen in die Handlung zieht, ohne dass man sich immer wieder oder immer noch fragen muss, ist das, was man gerade liest (literarische) Realität oder Ergebnis von Fantasie, Zukunftsvisionen oder was auch immer.

Einen so einfühlsamen, vielschichtigen, in seinen Erzähl-Perspektiven so weit angelegten Roman habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Ein gelungener, wunderbarer Roman, der auch sprachlich interessierten Lesern mit Genauigkeit, Bildhaftigkeit und Wortneuschöpfungen zufrieden stellen wird.

Martin Horváth, Mein Name ist Judith, Roman, Penguin Verlag, München 2019, 364 S., ISBN 978-3-328-60010-7

4 Gedanken zu „Martin Horváth, Mein Name ist Judith

  1. Deine in allen Facetten feine Besprechung macht mich buchhandlungsbestellfreudig! Obwohl auch gleich wieder Tränen kommen, bin grad nah am…wie man so sagt.
    Gruß von Sonja

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