Gøhril Gabrielsen, Die Einsamkeit der Seevögel

Gøhril Gabrielsen, Die Einsamkeit der Seevögel

Nur über ihr Satellitentelefon kann die Naturwissenschaftlerin Kontakt zu ihren Liebsten aufnehmen. Allein auf sich gestellt ist sie mitten im Winter für drei Monate nach Finnmark, in die nördlichste Region Norwegens, aufgebrochen, um für ihre Doktorarbeit wissenschaftliche Studien durchzuführen. Sie will den Einfluss klimatischer Veränderungen auf die Seevögelpopulation nachweisen.

„Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer grenzt an Klippen und Berge, zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm. … Tief unten bricht sich das Meer, grauschwarz und in schwerer Dünung. Das Dröhnen ist ohrenbetäubend, konstant; selbst als ich die Hände an meine Ledermütze lege und sie auf meine Ohren presse, dringt der Lärm pulsierend an mein Trommelfell.“

Diese grenzenlose Einsamkeit im Außen verhilft ihr, sich auf ihre Arbeiten zu konzentrieren und bewirkt eine Reduktion auf das Wesentliche in ihrem Alltag. So fühlt sie sich zunächst in der einfachen Hütte, karg, aber mit dem Notwendigsten ausgerüstet, sehr wohl. „Ich strotze vor Kraft und Selbstbewusstsein.“ Dazu trägt sicher auch die Aussicht bei, dass Jo, ihr Geliebter, ihr versprochen hat, nachzukommen und eine Zeit mit ihr dort zu wohnen.

Doch nach und nach wird ihr deutlich, dass er sein Versprechen wohl nicht wahrmachen will. Ihre Gespräche werden immer distinguierter. Er wird ihr zunehmend fremder und sie vermag ihm nicht mehr zu erzählen, wie es ihr wirklich geht, was in ihr vorgeht, mit welchen Ängsten, Sorgen und mit welcher Einsamkeit sie sich herumschlägt. Denn die Erinnerungen an das Ende ihrer ersten Ehe mit S. und die Anfänge ihrer Liebesbeziehungen zu Jo setzen ihr zu. Hinzu kommt die Nachricht von S.

„Glaub nicht, dass du mir je entkommst.“ und die Information des Kapitäns, der sie ab und an mit frischen Lebensmitteln versorgt, dass jemand nach ihr gefragt habe. Ihn als Beschützer lehnt sie ab.

Ihre Einsamkeit im außen, gekoppelt mit ihrer seelischen Einsamkeit wird noch verstärkt, weil sie sich in ihrer Phantasie mit einem tragischen Ereignis vor hundertvierzig Jahren an diesem Fleckchen Erde zu beschäftigen beginnt:

Borghild und Olaf haben hier gewohnt. Sie hatten fünf gemeinsame Kinder, vier Mädchen und einen Sohn, der bei einem Brand ihres Hauses gestorben ist. Die möglichen Auswirkungen dieses einschneidenden Ereignisses, für das Olaf Borghild wohl die Schuld gegeben hat, beginnt in den Gedanken und (Tag-)Träumen der Wissenschaftlerin breiten Raum einzunehmen und zum Spiegel ihrer eigenen Beziehungen zu werden, zumal sie ihre eigene Tochter Lina bei S., ihrem Vater, gelassen hat.

Sie versucht stets, zunächst als Wissenschaftlerin, also rational, nach Faktenlage zu agieren, doch diese Haltung fällt ihr – zumindest im Hinblick auf ihre eigenen Nöte – zunehmend schwerer.

„Ich falle und befinde mich in einem undefinierbaren Raum, unklar, voller Rätsel und Ungewissheiten, aber auch voller intensiver Sinneswahrnehmungen, und wie aus aus einer spontanen Reaktion auf dieses Bild setze ich den Schaukelstuhl in Bewegung, schaukele vor und zurück, zwischen den äußersten Punkten hin und her, aber auch zwischen damals und heute“.

Gøhril Gabrielesen vermag eine einem Krimi vergleichbare Geschichte mit vielen ineinander verwobenen Ebenen zu erzählen, die sich in der Person der Ich-Erzählerin fokussieren, einer Frau, die als Wissenschaftlerin unabhängig, frei, selbstbestimmt sein will, gleichzeitig aber auch das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Sicherheit und einer lebendigen Beziehung hat und nicht weiß, wie sie angemessen mit ihren Ängsten umgehen kann.

Ein moderner, äußerst lesenswerter Roman, in dem man zudem so einiges Wissenswertes über die Seevögel im hohen Norden erfährt.

Gøhril Gabrielsen, Die Einsamkeit der Seevögel, Roman, a.d. Norwegischen v. Hanna Granz, Insel Verlag Berlin 2019, 174 S., ISBN 978-3-458-17780-7

4 Gedanken zu „Gøhril Gabrielsen, Die Einsamkeit der Seevögel

    1. Ja, es war für mich spannend, die Ich-Erzählerin durch ihre (Seelen-) Landschaft zu begleiten.
      Lesen ist für mich im besten Falle die Entdeckung neuer Welten und die Begegnung mit mir selbst
      in teilen jedenfalls.
      Und: Gabrielsen kann erzählen.
      Liebe Grüße

  1. Mich begeistert immer, wie umsichtig, sorgsam, sprachgewandt und lesefreundlich du solche Rezensionen verfasst. Hut ab und danke dafür.

    Mit herzlichen Grüssen zum Oktoberbeginn,
    Brigitte

    1. Danke für deine positive Rückmeldung. Ich weiß sie sehr zu schätzen.
      Mir macht Lesen meist sehr viel Freude und die Begeisterung für Bücher teile ich gern.
      Verrisse schreibe ich nicht, gebe allerdings Rückmeldungen, es sei denn Bücher werden über den grünen Klee gelobt, dann mag ich meine Sichtweise – ab und zu – daneben stellen.
      Hab einen guten Start in den Oktober.

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