Michael Hillen, Antonia und andere Frauengeschichten

Michael Hillen, Antonia und andere Frauengeschichten

Meine Silvester- und Neujahrslektüre – ein guter Start.

Michael Hillen ist offensichtlich ein Lyriker, der genau beobachtet und wahrnimmt, was ist, und in der Lage ist, in seinen – oftmals recht kurzen – Gedichten wesentliche Aspekte menschlichen Lebens poetisch darzustellen:

verbliebenes
sollen noch einmal glänzen
die sie heimgekehrt sind
auf dem postweg.

will putzzeug nehmen
aus der vor ihr stehenden kiste,
aber hat die kraft nicht:

schuhe
in denen niemals mehr
füße stecken


Oder es wird beinahe ein ganzes Leben sichtbar und spürbar:

schweigsame
läßt das hinterste
ihrer zunge nicht sehn, schweigt
in mehr als sieben sprachen.
sie ist ein verschlossenes fenster
das das leben in die mauer
gebrochen haben muß
gegen ihren willen, ein fenster
aus dem sie stumm hinausblickt
wie eine kleine diebin
auf der wache.
wer aber verstohlen hineinsieht
findet sie in unaufhörlichem
gespräch.

Insofern ist der gewählte Titel nur auf den ersten Blick vielleicht etwas irritierend. Es sind im ersten Teil „Vor der Fahrt“ poetische Lebensgeschichten von Frauen, die sonst eher nicht im Fokus stehen: Putzfrauen, Prostituierte, einsame Frauen, Rentnerinnen, Frauen, die ein Leben geführt haben oder führen, das oftmals durch viel und harte Arbeit, Armut, von Gewalterfahrungen und wenig Wertschätzung geprägt ist:

wenn sie schläft
abends geht sie den parkplatz
auf und ab, erläutert preise
bei heruntergelassenen
scheiben; mit make-up
kaschiert sie, ohne sorgfalt,
rötungen und verkrustungen
um die einegestochene haut.
sie lebe, bedeutet sie einmal
der reporterin, wenn sie schlafe

Im zweiten Teil „Feine Falten“ bekommen alte, oft trauernde Menschen oder Menschen eine Stimme, die dem Tod entgegengehen bzw. sich Gedanken über den eigenen Tod machen. Sie werden in ihrer Einsamkeit, Trostlosigkeit und ihren besonderen Wünschen sichtbar:

möchte es
möchte es,
flüsterte sie,
nicht zuviel
verlangt sein.

daß ein schatten liege
über ihrem grab, schatten
eines baums

Michael Hillens Sprache enthält nichts Überflüssiges. Sie konzentriert sich auf das Wesentliche, ist sehr konkret und lässt den LeserInnen dennoch viel Raum, zwischen den Zeilen zu lesen, eigene Fantasien und Erfahrungen einzubringen und so zu erweitern. Ich bin sicher, Gespräche über seine Gedichte würden diese Bandbreite, diese Spielräume deutlich machen.

Einige seiner Gedichte sind Dichtern, Malern gewidmet, die in z.T. fein ironischen Anspielungen, in Zitaten Eingang in Hillens Gedichte finden:

ein unerwarteter besuch
ins zimmer tritt eine
weißhaarige dame.

das ist der tod.

der tod trägt einen rosa-violetten hut
und eine rote handtasche.

einer weißhaarigen dame
steht keine sense

(Es ist ein Gedicht zum Bild Ernesto Sábato, Una visita inesperada)

Michael Hillens Gedichte sind eindeutig mehrdeutig, sie lassen Freiräume zu und berühren. Für mich Gütesiegel gelungener, lesenswerter Gedichte.

Michael Hillen, Antonia und andere Frauengeschichten, Gedichte, Pop Verlag, Ludwigsburg 2018, 79 S., ISBN 978-3-86356-195-6

4 Gedanken zu „Michael Hillen, Antonia und andere Frauengeschichten

  1. Merci.
    Mich haben fast alle Gedichte sehr angesprochen, z.T. auch bewegt, zumindest nachdenklich gemacht.
    Sonst wäre die Besprechung anders ausgefallen.
    Irgendwelche Gefälligkeitsrezensionen schreibe ich nicht.

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