Wer bin ich?

Wer bin ich?

Wer bin ich – das ist eine Frage, die zumindest ich mir immer mal wieder stelle, in unsicheren Zeiten, in denen das Ziel nicht klar ist, nur der Weg unter den Füßen noch spürbar.

Wenn da kein Halt im Außen ist, Wegbegleiter still, oft heimlich eine andere Abzweigung genommen haben.

Dann bin ich auf mich geworfen und kann wählen:
wahrnehmen, lauschen, annehmen oder
flüchten, verdrängen, am „Weiterso“ hängen,
wohl wissend, ein „Weiterso“ ist nicht möglich.

Ich kann mir selbst auf die Schliche kommen:
meinen Lebensstrategien, Glaubens- oder Blockadesätzen. Überprüfen, ob es noch meine sind oder je wirklich meine gewesen sind.

Welche Träume, Werte habe ich vielleicht unterwegs verloren, verraten oder einfach nur vergessen?
Was möchte ich noch erleben, was ist mir wirklich wichtig?

Jetzt ist Zeit für diese Fragen, die wir erst einmal für uns beantworten können. Vielleicht ist danach auch ein anderes, ehrlicheres Miteinander möglich. Denn wir werden in dieser Zeit auch mehr denn je merken, welche Dienstleistungen wir vielleicht als selbstverständlich in Anspruch genommen haben. Ich vermisse u.a. meine Augenoptikerin und Friseurin sehr ;)

Vor allem werden wir merken, welche Menschen tatsächlich unsere Mit-Menschen sind. In Krisenzeiten trennt sich die Spreu vom Weizen – das ist jedenfalls meine bisherige Erfahrung.

Dietrich Bonhoeffer hat offensichtlich seine Antwort gefunden und in dem (leicht gekürzten) Gedicht „Wer bin ich?“ niedergeschrieben. Doch auch ihm sind Selbstzweifel, Unsicherheit nicht fremd. Wohl dem, der sie nutzen kann, seiner eigenen Wahrheit auf den Grund zu kommen.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott,
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.

(Dietrich Bonhoeffer)

4 Gedanken zu „Wer bin ich?

  1. Ja, diese Zeit wirft Fragen auf, mehr als in den Zeiten davor.
    Und die Antworten, wenn es denn welche gibt, werden sehr unterschiedlich ausfallen.

    Einen lieben Gruss in den Sonntag hinein,
    Brigitte

  2. das bewerten, ja, das zu lassen, ist nicht leicht. gerade jetzt (eigentlich immer) eine gute übung auf dem weg. danke für diesen nachdenklichen text – und für Bonhoeffer.
    sonnige sonntagsgrüße
    Sylvia

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