Anaïs Barbeau-Lavalette, So nah den glücklichen Stunden

Anaïs Barbeau-Lavalette, So nah den glücklichen Stunden

„Mein Roman ist kein historischer Roman. Es ist der Bericht eines Lebens, jenes meiner Großmutter, die die Geschichte auf ihre Art durchwanderte: frei, intensiv, schockierend.“

Es ist die Geschichte der Suzanne Meloche, die in den 50 iger Jahren des letzten Jahrhunderts in Kanada durchlebt wird, einer Zeit, „erdrückt von der Herrschaft der Kirche und den klerikalen Gesetzen“, in der Frauen geächtet werden, die nicht die drei K’s (Kinder, Küche, Kirche) als Inbegriff ihres Lebens ansehen. Dagegen wehren sich sich Künstler*innen der Künstlerbewegung der Automatisten in französisch sprechenden Québec.

Erzählt wird das Leben von ihrer Enkelin Anaïs, die erst nach dem Tod ihrer Großmutter beginnt, sich für diese ihr nahezu unbekannte Frau zu interessieren. „Du musstest sterben, damit ich anfange, mich für dich zu interessieren. Damit du vom Phantom zur Frau wirst. Ich liebe dich noch nicht. Aber warte auf mich, ich komme.“

Es gab nur drei „Begegnungen“ zwischen Enkelin und Großmutter, da Anaïs Mutter keinen Kontakt zu ihrer Mutter hatte, die ihre Kinder als Kleinkinder verließ, um ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben zu leben:
– bei der Geburt Anaïs
– als sie 10 Jahre alt ist, glaubt sie, ihre Großmutter vom Fenster aus gesehen zu haben und
– mit 26 Jahren besucht sie sie mit ihrer Mutter. Dieses Mal bricht die Mutter den Kontakt endgültig ab.

„Es ist meine Mutter, die beschließt zu gehen. Sie flüchtet lieber, bevor du uns wehtust. Man weiß nie. … Sie hat schon so viel Ablehnung geschluckt, so viele Zurückweisungen, und nun stecken sie alle in ihrer Kehle fest. Sie hat gerade so gelernt, nicht daran zu ersticken. Sie sagt nichts, aber sie lässt meine Hand nicht los. Wir halten uns gegenseitig.
Ich hasse dich. Ich hätte es dir ins Gesicht sagen sollen.“

Nach der Beerdigung schreibt Anaïs über ihre Mutter:

„Meine Mutter stützt sich an der Wand ab. Als wäre in ihrem Bauch eine Bombe explodiert und hätte alles ausgelöscht. Endlich von deiner Abwesenheit befreit. Vielleicht wird sie jetzt normal. Eine Frau, die ihre Mutter begraben hat.“

Anaïs findet bei der Auflösung der Wohnung ihrer Großmutter „Spuren der verlorenen, der versäumten, der entflohenen Zeit. Dein Pech.“ Dennoch ist sie fasziniert von der Wohnung, den Dingen, die sie in ihr findet, den Kleidern, der Kosmetik der Großmutter. Sie findet einen vergilbten Karton mit Briefen, Gedichten -später stellt sich heraus, dass es Gedichte der Großmutter sind – Zeitungsartikeln und eine Fotografie aus Alabama mit einem brennenden Bus, jungen Schwarzen und Weißen und „auf Knien eine junge Frau, die mir ähnelt.“

Die Spurensuche der Enkelin beginnt und langsam entwickelt sich ein ungewöhnliches Leben vor den Augen der Enkelin, der LeserInnen und allmählich ist Verstehen, Verständnis möglich, auch wenn unter der Haut der Mutter nach wie vor die „Glassplitter weiter festsitzen, (sie) Spuren des Verlassenseins wie ein Wappen trägt.“ Erst die Enkelin ist zu einer Versöhnung, zu einer Integration ihrer Ahnin, der Großmutter, fähig.

„Weil ich zu einem Teil aus deinem Fortgehen bestehe. Deine Abwesenheit ist ein Teil von mir, sie hat mich auch erschaffen. Dir habe ich dieses unruhige Gewässer zu verdanken, das meine Wurzel tränkt zahlreich und tief.
So existierst du fort.
In meinem beständigen Durst zu lieben.
Und in dem Bedürfnis frei zu sein, eine absolute Notwendigkeit.
Aber ich bin frei mit ihnen.
Ich, ich bin gemeinsam frei.“

Es ist ein inhaltlich und sprachlich faszinierender Roman entstanden über eine Frau, die stets im Konflikt gelebt hat mit ihren Wünschen, Werten, dem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit und den Grenzen, die ihr die damalige Zeit mit ihren von Kirche und Gesellschaft geprägten (Moral-) Vorstellungen gesetzt hat. Suzanne Meloche hat den unerhörten, den radikalen Weg gewählt: Sie ist gegangen, hat ihren Mann und ihre beiden Kinder verlassen. Eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen für alle Beteiligten.

Von den Wunden, die diese Entscheidung bei der eigenen Mutter hinterlassen haben, war das Leben der Anaïs Barbeau-Lavalette lange Zeit geprägt. Sie hegte einen gehörigen Groll gegen die Großmutter als Grund für die Traumata ihrer Mutter. Es gehört schon Mut dazu, sich dieser Großmutter zu nähern, auch wenn es post mortem ist.

„Ich erinnere mich an dich.
Wir werden und an dich erinnern.“

So die beiden Schlusssätze des lesenswerten Romans.
Anaïs Barbeau-Lavalette, So nah den glücklichen Stunden, Roman, Eichborn Verlag, Köln 2020, 382 S., ISBN 978-3-8479-0058

2 Gedanken zu „Anaïs Barbeau-Lavalette, So nah den glücklichen Stunden

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