Milena Michiko Flašar, Ich nannte ihn Krawatte

Milena Michiko Flašar, Ich nannte ihn Krawatte

„Ich nannte ihn Krawatte“ ist ein kurzer Roman, dessen Inhalt sehr leise, zart, dennoch tiefgründig, poetisch erzählt wird und – zumindest bei mir – tiefes Mitgefühl hervorgerufen hat mit den beiden Protagonisten Taghuchi Hiro, einem zwanzig Jahre alten Hikikomori, der isoliert in einem Zimmer der elterlichen Wohnnug lebt, seit Jahren kaum noch Kontakt zu Menschen hat, nicht mehr spricht und kaum noch in die Öffentlichkeit geht, und Ōhara Tetsu, einem fünfzigjährigen arbeitslosen Angestellten, der es nicht schafft, seiner Frau von seiner Arbeitslosigkeit zu erzählen.

Der Roman erzählt aus der Ich-Perspektive Taghuchi Hiros im Rückblick von der Begegnung der beiden:

„Ich nannte ihn Krawatte:
Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.
Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten. …
Noch kann ich nicht glauben, dass unser Abschied ein endgültiger ist. … Er könnte. Deshalb sitze ich hier.
Es ist unsere Bank auf der ich sitze. Bevor sie zu unserer wurde, war sie meine gewesen.“

Taghuchi Hiro lernt über die stille, zuhörende mitfühlende Zuwendung Ōhara Tetsus sich wieder dem Leben zuzuwenden, indem er ihm nach und nach aus seinem Leben erzählt, aus dem Leben eines, der unter allen Umständen normal im Sinne gesellschaftlicher Normen sein will, sich bis zur Unkenntlichkeit anpasst, Gefühle versteckt und mitmacht, wo Verweigerung, Widerstand eine Sache der Menschlichkeit, der Solidarität, der Freundschaft, des Mitgefühls gewesen wäre und letztendlich auf sich, mit sich selbst nicht mehr klarkommt. Isolation als Versuch, dem Leben aus dem Weg zu gehen:

„Sie hatten Recht. Mein Sterbegedicht ist schon lange fertig. Was es noch zu schreiben gilt aber, ist das Gedicht, welches niemals fertig, ein endloses Anreiben der Tusche, ein endloses Eintauchen des Pinsels, ein endloses Gleiten über weißes Papier, das Gedicht meines Lebens ist. Ich will versuchen, es niederzuschreiben … Die erste Zeile: Ich nannte ihn Krawatte. Ich will schreiben: Er hat mich gelehrt, aus fühlenden Augen zu schauen.“

Auch Ōhara Tetsu, fast dreißig Jahre älter als sein Gesprächspartner, beginnt von sich zu erzählen, von seiner arrangierten Ehe, seinem später verstorbenen Kind, das mit seiner Behinderung so gar nicht dem Bild entsprach, was er sich vor der Geburt von seinem Sohn gemacht hatte, und von seinem Neid seiner Frau gegenüber, die ihr Kind so vorbehaltlos annehmen konnte wie es war.

So unterschiedlich die beiden Protagonisten leben, sind beide Menschen, die sich „selbst hinterherhinken“, die einsam, sprachlos, isoliert, sich selbst entfremdet in einer Ehe, einer Familie, einer Gesellschaft leben, in der das nicht Akzeptierte, das Nicht-Normale keinen Platz hat, versteckt werden muss und zu Gefühlskälte führt:

„Das, was in mir hart geworden war, hinderte mich daran, tief und innig, … zu fühlen. Von uns beiden hatte ich den schlimmeren Herzfehler.“

Als dann eines Tages der „Krawattenmann“ nicht mehr kommt, macht sich der Ich-Erzähler auf, ihn zu Hause zu besuchen. Doch er kommt zu spät.

Nicht zu spät aber für ihn, zu versuchen, Kontakt zu den eigenen Eltern aufzunehmen. Sie setzen sich zusammen und verständigen sich „mit Hilfe des Uneigentlichen über das Eigentliche.“ Es war wie „ein erstes Aufatmen, nachdem wir alle drei unter Wasser gewesen waren. Das Durchbrechen der Oberfläche. Wir prusteten noch.“

Sie schaffen es, den Reset-Knopf zu drücken: „ANFANG“ – Das Ende dieses faszinierende Roman.

Milena Michiko Flašar, Ich nannte ihn Krawatte, Roman, Berlin 2020, 140 S. einschließlich der Worterklärungen, ISBN 978-3-8031-28294

7 Gedanken zu „Milena Michiko Flašar, Ich nannte ihn Krawatte

  1. Das ist – ganz ehrlich – für mich das beste Buch, was ich im letzten Jahr gelesen habe. Sie hat eine so feine Art, Menschen zu beschreiben, dass Mitgefühl und Verständnis die (natürliche) Folge sind.

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