Juli Zeh, Über Menschen

Juli Zeh, Über Menschen

Nach „UNTERLEUTEN“ gibt’s nun den Roman „Über Menschen“, ein Roman, der rückblickend im ersten Teil des dreiteiligen Romans von den Auswirkungen der Coronapandemie auf die Beziehung zwischen Robert, einem schon immer von zu Hause arbeitenden klimakritischen Journalisten, und Dora, einer Werbetexterin, erzählt, die seit dem ersten Lock-down ebenfalls im Homeoffice arbeiten muss.

„Und dann kam das Virus. Robert konvertierte vom Klimaaktivisten zum Epidemiologen, und die Welt stand kopf.“ und „Obwohl sie sich die Miete teilten, schienen die Räume allein ihm zu gehören. Schließlich hatte er immer hier gearbeitet, während Dora in die Agentur gegangen war.“

Es wird in jeder Hinsicht eng und leer. Dora soll und darf nur noch kurz mit ihrer Hündin Jochen-der-Rochen rausgehen, längere Spaziergänge toleriert er, den sie nur noch Robert Koch nennt, später dann gar nicht mehr. Ja, er verbietet sie ihr explizit, obwohl er selbst noch mit dem Fahrrad durch Berlin fährt. Das reicht.

Sie büxt aus, von Berlin Kreuzberg. „Sie mochte das Wort. Es klang nach Aus-der-Büchse-Entwischen.“ Und wohnt ab sofort – nur mit dem Nötigsten ausgestattet – in dem bereits vor drei Monaten – heimlich gekauften – Gutsverwalterhaus in Bracken, in der Prignitz. Flucht in die ländliche Idylle, da wo die Welt noch in Ordnung ist?

Über ihren Hund, der auf das Nachbargrundstück gelaufen ist, kommt sie in Kontakt mit ihrem Nachbarn zur Rechten, mit Gote, wie Gottfried. „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ Sie stellt sich ihm mit Dora „Wie Dorf-Randlage“ vor. “ ‚Du musst den Zaun reparieren. … Wenn dein Köter noch einmal meine Saatkartoffeln ausgräbt, trete ich ihn platt‘, sagt ihr neuer Nachbar“ nachdem er den Hund über die Mauer geworfen hat.

Damit scheinen die Fronten klar. Sie die linke Städterin, er der rechte Nazi-Dörfler und schon beginnt Doras Kopfkino Bilder, Gedanken, innere Monologe und Dialoge zu produzieren, die sie beim mühsamen Anlegen eines Gemüsebeetes zu vergessen sucht. Vorher hat sie sich im Internet versucht schlau zu machen, wie sie es anlegen muss.

„Serien-Griller“ ist ihr Nachbar gegenüber, der eines Tages ungefragt mit einer Fräsmaschine ihren Garten mit den vielen jungen Ahornbäumen rodet und innerhalb kürzester Zeit eine Fläche freigelegt hat, für die Dora unendlich viel mehr Zeit und Kraft gebraucht hätte. Er redet nur in mit rassistischen Witzen und Kalhauern gespickten Sätzen, die sie sofort in eine „Rassismus-Starre“ fallen lässt. Nach und nach lernt sie noch weitere Dörfler kennen, die sich – jeweils auf ihre sehr besondere Art, meist auch zudem noch ungefragt – um sie kümmern, womit sie zunächst gar nicht klar kommt.
Alles eher klischeehafte gezeichnete Typen, die aber so gar nicht in ihre Vorstellung von Dörflern passt. Kann sie zu einem Nazi ins Auto steigen, wenn der ihr anbietet, sie mit zum Einkaufen zu nehmen? Wie soll sie reagieren, wenn Gote mit Freunden – trotz Kontaktverbots – Bier säuft und lauthals das Horst-Wessels-Lied singt? Was unternehmen, wenn Gote, der Nazi, sich mit Tom und Steffen, dem schwulen Paar des Dorfes, prügeln will?

Doch das sind nicht ihre einzigen Probleme. Denn mittlerweile ist sie arbeitslos. Ihre Agentur hat ihr gekündigt, obwohl ihre letze Kampagne beim Kunden gut ankam, aber wegen der aktuellen Lage nicht mehr gestartet wird. Sie weiß nicht, wie lange das Geld auf ihrem Konto reicht, zumal sie davon auch inzwischen Medikamente für Gote kauft, der an einem inoperablen Hirntumor leidet, aber nicht krankenversichert ist.

Rezepte dafür stellt ihr ihr Vater aus, ein Neurochirurg, der Gote auch untersucht hat, nachdem Dora ihn mit seinem Pick-Up aus dem Graben gezogen hat, in dem er wegen seiner Ausfallerscheinungen gelandet ist.
Um die Tochter Gotes kümmert sie sich dann auch noch, die an ihrem Hund einen Narren gefressen hat.

Im Dort kursieren schon Gerüchte, dass Dora und Gote möglicherweise ein Paar sind. Das sind sie sicher nicht, dennoch hat sich – trotz anfänglich großer Abneigung – so etwas wie Freundschaft entwickelt, auch wenn sie sich verbal immer arg angehen. Dennoch gelingen zunehmend Dialoge, in denen beide sich ihre Vorurteile an den Kopf werfen, um sie anschließend wenigstens zum Teil zu revidieren.

Die Entwicklung der Handlung nimmt dann teilweise eher märchenhafte Züge an, der verhasste, von allen abgelehnte, zu Gewaltausbrüchen neigende Nazi entpuppt sich als ein eigentlich gutmütiger Mensch, der Figuren schnitzt, seine Tochter Franzi abgöttisch liebt, Dora unter die Arme greift, obwohl sie darum nicht gebeten hat, möglicherweise aus sehr sentimentalen Gründen, da sie – wie sich später herausstellt, im ehemaligen Kindergarten des Dorfes lebt, in den auch Gote gegangen ist. „Gotes Dasein hat sich ihr mitgeteilt. Er hat es mit ihr geteilt. Am Ende haben sie gemeinsam existiert. Verbunden durch die Mauer, die sie trennte.“ Seit einiger Zeit rauchen sie gemeinsam – jeder auf seiner Mauerseite – eine letzte Abendzigarette. Gote ist einfach (für sie) da. Eine Verlässlichkeit, die sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter lange nicht mehr erlebt hat.

„Er war ein Arsch. Aber einer von uns.“ Das ist die vorherrschende Dorfmeinung über Gote, die nach dessen Tod ungeniert geäußert wird. Dennoch tragen alle etwas zu seiner Beerdigung bei. „Was die Sprüche auf den Kranzschleifen betraf, plädierte Tom für ‚Einer weniger‘ und Dora für ‚Hier ruht der Dorf-Nazi‘. Sie lachten zusammen, was unheimlich guttat. Schließlich entschieden sie sich für ‚Unserem Freund und Nachbarn‘ sowie für eine weitere, kleine Schleife, auf der ‚Meinem lieben Papa von Franzi‘ stehen sollte.“

„Über Menschen“ ist ein vielschichtiger, sprachlich kreativer und klarer Roman, der aktuelle Aspekte der Pandemie aufgreift, Konsequenzen im Denken und Handeln für die Menschen sowohl in der Stadt als auch auf dem Land verdeutlicht und einige Klischees und Vorurteile auf ironische Weise gegen den Strich bürstet.

Juli Zeh, Über Menschen, Luchterhand Verlag, München 2021, 412 S., ISBN 978-3-630-8766-2

6 Gedanken zu „Juli Zeh, Über Menschen

  1. Welch schöne Aussichten auf einen beachtenswerten Roman und auf deine gepflegten Füsse!
    Wenn jetzt noch die Kälte zurückgeht (wir haben mal wieder Nachtfrost), wäre das eine perfekte Frühlingsimpression.
    Liebe Grüsse,
    Brigitte

  2. Wollte einfach mal ein wenig Abwechslung in die Vorstellung der Bücher bringen ;)
    Hier ist es auch wieder ziemlich frostig, aber wenigsten sonnig und hell.
    Herzliche Grüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert