Hanns-Josef Ortheil, Blauer Weg

Hanns-Josef Ortheil, Blauer Weg

Bei dieser Ausgabe (mit blauem Lesebändchen!) handelt es sich um die Neuausgabe des bereits 1996 veröffentlichten literarischen Tagebuchs, erweitert um einen einleitenden Essay des Autors, der seine eigene „Wiederlektüre“ kommentiert.

Es geht im wesentlichen um seine Sicht der geschichtlichen Ereignisse von 1989 bis 1995, oft aus der Perspektive literarischer Begegnungen der Dichter beider „deutschen“ Staaten. So entstehen literarisch wohl formulierte Skizzen zeitgenössischer Ereignisse in Literatur und Gesellschaft sowie Portraits literarischer und politischer Zeitgenossen. Die eingenommene Schreib-Perspektive wechselt zwischen der Ich- und Er-Perspektive, manchmal sogar innerhalb eines Satzes. Anfangs ein wenig irritierend, aber man gewöhnt sich daran.

Ortheil erlebt den Mauerfall während einer Schriftstellertagung in Innsbruck, bei der es um Autobiografien geht:

„Die Aufgabenstellung hat etwas Bedrückendes, sie macht aus all diesen Angereisten ergebene Schüler, die sich einem Pensum stellen und nur bestehen, wenn sie mit einigen besonders originellen Antworten auftrumpfen können. Gerade dieser Zwang zur Originalität läßt das Reihumsprechen aber jedes Gespräch verfehlen, man redet gegen die großen Fensterscheiben an, die den Raum nicht einmal richtig erhellen und in denen man die Spiegelbilder seiner Mitredner gewahr wird, all diese nachdenklichen und über der Konstruktion ihres Ego sorgenvoll gefurchten Mienen.“

Ein Kellner überbringt abends die Kunde, dass im Fernsehen live aus Berlin übertragen werde, „wo justament, justament die Mauer gefallen sei. … Niemand versteht.“

In seinem Dachzimmer vorm Fernsehen erlebt Ortheil die Meldungen:
„Als ich die Bilder aus Berlin sehe, steigt ein Glücksgefühl in mir auf, wie ich es noch nie bei Fernsehbildern erlebt habe. Es ist das Glück der vollkommenen Überraschung, als nehme eine völlig verfahrene Geschichte von diesem blitzhaften Moment an eine Wende ins Märchenhafte. In diesem Rausch scheint es nur noch eine einzige Gegenwart zu geben: Jetzt!Jetzt!“

Dieser Rausch klingt allerdings schnell ab. Über die Öffnung des Brandenburger Tores notiert er:

„Bei der vorweihnachtlichen Öffnung des Brandenburger Tors sah dann alles schon so aus, als sei die Berliner Mauer gefallen, damit Helmut Kohl einmal ungestört durchs Brandenburger Tor spazieren könne. Das Volk war an die Seite gedrängt, und in der freigeräumten Mitte lief die Inszenierung: Kohl in Begleitung. Plötzlich war dieser schwere Körper das unübersehbare Zentrum aller Ereignisse.“

Doch nicht nur die Welt da draußen ist Gegenstand seiner Betrachtungen, sondern auch sein Schreibdomizil in Stuttgart, in das er sich regelmäßig zurückzieht. Die Aufzeichnungen 1993 beginnen so:

„ER WARTET, nie ist die Stille vollkommener als jetzt, in diesen Tagen, wo manchmal Schnee fällt, nur eine Ladung, begrenzt, die das Profil der Landschaft betont. Fünf Stunden halten die Äste der Bäume das vage Weiß, dann flimmert die Sonne darüber, und das dunkle Naß tritt rasch wieder hervor.“

Es ist eine interessante Lektüre, die immer wieder dazu einlädt, selbst Rückschau zu halten, man erfährt einiges über Ortheils Art zu schreiben. Doch man braucht Muße für dieses Buch, denn keine Handlung trägt einen durch die Seiten, sondern immer wieder neue Ein-, Ausblicke, Darstellungen, Kommentare, die einem präsentiert werden. Aber abschnittsweise, jahresweise gelesen, eine Erweiterung des Horizonts, die sicher auch dazu beiträgt, seine zahlreichen Romane noch einmal anders zu lesen und zu verstehen.

Hanns-Josef Ortheil, Blauer Weg, Luchterhand Verlag München 2014, 586 S., ISBN 978-3-630-87444-9

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