Vernichtende Verlassenheitsgefühle

Vernichtende Verlassenheitsgefühle

„Wenn ich heute so zurückdenke und mich frage, was mir vielleicht ganz unmittelbar geholfen hätte, dann glaube ich, hätte es mir gut getan, wenn mich jemand ganz fest in den Arm genommen hätte. Dieses vernichtende Verlassenheitsgefühl wäre gelindert worden.“

Ich habe mich in der letzten Zeit mit den Auswirkungen der schwarzen Pädagogik und Johanna Haarer als eine prominente Vertreterin dieser Erziehungsrichtung beschäftigt, deren Werk „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ bis ca. 1984 (!) – im Hinblick auf die Sprache ein wenig entnazifiziert, von den Erziehungsprinzipien ansonsten unverändert – immer wieder neu verlegt worden ist.

An manchen Stellen ist es mir wir Schuppen von den Augen gefallen, wie sehr mich das an die bei uns zu Hause – meist ungeschriebenen Regeln, Gesetze, Verbote und Strafen – erinnert und welche Auswirkungen das auf mich und meine emotionale Entwicklung genommen hat. Meist waren sie mir gar nicht bewusst. Gehorchen, Disziplin, Ruhe, Ordnung, Sauberkeit: „Bei uns kann man vom Fußboden essen“, und Fleiß … das waren die Tugenden. Ich kann mich nicht daran erinnern, meine Mutter mal ruhig sitzen und uns einfach nur zugewandt erlebt zu haben. Es gab immer etwas zu tun. So gab’s auch keine Zeit für körperliche Nähe, ich jedenfalls erinnere das so. Zuwendung bekam man, wenn man krank war.

Als ich mein erstes Kind bekommen habe, da sind diese Erziehungsprinzipien in Form von Ratschlägen wieder da gewesen:

– Kinder soll man schreien lassen, das entwickelt die Lungen
– Kinder darf man nicht verwöhnen
– Kinder müssen im Vierstundenrhythmus gestillt werden
– Kinder müssen ihre Ruhe haben und sich selbst beschäftigen
– Kinder müssen in einem stillen Raum abgelegt werden
– Kinder werden schnell zu Tyrannen …

Bewusst habe ich mich nicht daran gehalten, es hätte mir das Herz zerrissen, mich an meine eigenen Verlassenheitsängste erinnert. Was ich allerdings unbewusst übernommen habe, das werden meine Kinder besser beurteilen können.

Gertrud Haarer, die jüngste Tochter von Johanna Haarer, setzt sich mit ihrer Mutter in „Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind“ auseinander und schafft es, sich mit ihr zu versöhnen, zumindest ihren Frieden mit ihr zu finden. Sie haben sich in den letzten Jahren, trotz aller Widerstände der Mutter, wenigstens ansatzweise verständigen können. Gertrud kann nach und nach verstehen, dass wohl auch ihre Mutter unter ihrer eigenen Unnachsichtigkeit und ihren Ängsten gelitten hat, obwohl sie mehrfach in ihren Memoiren behauptet, sie kenne keine Angst.

Als Johanna Haarer pflege- und hilfsbedürftig wird, erkennt ihre Tochter Gertrud, dass ihre Mutter schon länger tabletten- und alkoholabhängig ist, um mit ihrer Angst fertig zu werden, über die sie nicht sprechen kann oder will, die sie daher auch nicht konkretisiert und angeht.

Gertrud ist im Gegensatz zu ihrer Mutter in der Lage, sich professionelle Hilfe zu holen und wird von ihrem Lebenspartner liebevoll unterstützt, der sie nicht in eine Klinik lassen will, weil er davon überzeugt ist, dass sie es gemeinsam schaffen, ihre schon sehr massive Depression zu überwinden.

Gertrud stellt sich ihren Ängsten, ihren lange Jahren unterdrückten Gefühlen und findet ihren eigenen Weg, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, Verständnis für sich und die Mutter aufzubringen, trotz aller Kritik an ihr, und langsam heil zu werden, d.h. sich anzunehmen, wie sie ist. Die Liebe ihres Partner ist ihr sehr wichtiger Halt.

Johanna Haarer, Gertrud Haarer, Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter, hrsg. u. eingeleitet von Rose Ahlheim, Hannover 2012, 424 S., ISBN 978-3-930345-95-3

3 Gedanken zu „Vernichtende Verlassenheitsgefühle

    1. Diese Sendung hat mich auf die Autobiografie der Tochter aufmerksam gemacht.
      Das „Erziehungsbuch“ ihrer Mutter kann ich – wenn überhaupt – nur in homöopathischen Dosen lesen, weil ich dann stets, was da hochkommt erst einmal verdauen muss. Vieles habe ich verdrängt, was dann aber (im Untergrund) immer noch wirkmächtig ist. Manchmal denke ich auch, ich sollte damit aufhören, doch irgendetwas drängt mich, es ist eine Art „die Dämonen“ füttern, damit sie letztendlich zur Ruhe kommen können.
      Liebe Grüße

  1. Aufgehört habe ich irgendwann, mich damit zu beschäftigen. Es kam mir zu nahe. Warum haben unsere Eltern nicht ihre Vernunft eingeschaltet, sondern automatisch sich nach diesen verderblichen Maximen ausgerichtet…
    Umso liebevoller – leider nicht in jedem Augenblick – haben wir`s gemacht…
    Gruß von Sonja

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