Helen Wolff, Hintergrund für Liebe

Helen Wolff hat – ähnlich wie Kafka – verfügt:
„At my death, burn or throw away unread!“
Und auch im Hinblick auf Helen Wolff, ist es gut, dass sich Menschen geweigert haben, diesem Wunsch – bei allem Respekt – zu entsprechen. Ihr autobiografisch geprägter, zauberhafter Roman, entstanden im Sommer 1932/33, ist nun das erste Mal im Weidle Verlag veröffentlich worden, ergänzt mit einem ausführlichen Essay von Marion Detjen. Die Gestaltung des Covers ist – ihrer unnachahmlichen Art – von Kat Menschik. Ein schmaler, schlicht gestalteter Band, ein wahres Kleinod, mit so glattem Papier, dass selbst das Seitenwenden zu einem haptischen Erlebnis wird.
„Wir sind unterwegs, der Wagen, Du und ich.“ Wir, das sind der vierzigjährige Kurt Wolff und die zwanzig Jahre jüngere Helen, die nach einem langen Winter in Deutschland in den Süden Frankreichs, an die Côte d’Azur aufbrechen. Er, der wohlhabende Lebemann und Womenizer „Nie wirst du dich ganz aus deinen Bindungen lösen“ und Helen, seine zwanzig Jahre jüngere Geliebte, der er die Welt zeigen will und der bestimmt, wo es lang geht.
„Ich hänge an deinem Arm. Ich bin klein, Du bist groß. Wenn ich Dich nicht festhalte, muß ich wie ein kleiner atemloser Hund hinter dir herlaufen, den man mit zu kurzem Strick am Wagenende festgebunden hat.“
Sie liebt ihn dennoch ohne Einschränkung, hofft, dass seine Liebe zumindest „für einen Sommer vorhält„, und versucht, ihre Vorstellungen vom Urlaub, vom Leben überhaupt zu Gehör zu bringen. Sie träumt von einem kleinen abgelegenen Haus in der Nähe des Meeres, doch sie steigen ab in Hotels, „so fein, wie es zu Dir und nicht zu mir paßt.“ Sie erlebt, dass man mit ihm kein „Privatleben“ hat. Darüber ist sie gleichzeitig entsetzt und ganz begeistert: Ich schminke mich, und Du gibst Anweisungen.
Bei einem Casinobesuch in Monte Carlo erlebt sie ihn wie behext, nichts und niemand erreicht seine Aufmerksamkeit. Nur das Spiel zählt: „Ich weiß, in diesen Sekunden könnte ich tot umfallen, und Dein Herz rührte sich nicht.“
Sie geht ohne ihn ins Hotel zurück, schreibt einen kurzen Abschiedsbrief :„Du liebst die großen Worte nicht.“ – auch in diesem Moment noch auf ihn fokussiert – und verlässt ihn, um ihre Träume für diesen Sommer zu verwirklichen: „Ich will leben, und du willst Dich amüsieren. – Nein, Lieber, nicht mit mir.“ Ein großer, ein mutiger Schritt.
Sie findet ihr Traumhäuschen und Menschen, die sie darin unterstützen, ihr eigenes Lebensgefühl zu entdecken und zu leben. Da ist Wolf, ein ehemaliger Matrose, der sie tatkräftig unterstützt und sie auch – ohne sich aufzudrängen – mit seinen eigenen Lebensweisheiten begleitet und sie ins Erleben, Genießen bringt:
„Wolf hat recht, denke ich. Das Leben ist großartig, sobald man damit einverstanden ist. Alles andere ist falsch. Einwilligen … Nur die Angst ist falsch. … Sich dem Leben in die Arme legen ist richtig. So wie man sich früher Gott befohlen hat. Vielleicht ist es überhaupt das Gleiche.“
Und sie trifft ihren Geliebten wieder – in Gegenwart einer attraktiven blonden Schönheit – auf einem Fest, das sie mit Wolf besucht. In der Nacht steht er dann vor ihrer Tür und will ins Haus. Sie will nicht. Dennoch lässt sie ihn ins Haus und trifft eine weitreichende Entscheidung.
„Vielleicht verstehe ich Dich besser, weil ich eine Weile am Wasser gelebt habe. Es ist seine Natur, daß es mit dem Wetter wechselt, daß es mit dem Himmel trüb wird oder glänzt. Es ist seine Natur, daß man sich daran nicht festklammern kann, daß man hindurchgreift und daß es abläuft in vielen kleinen Tropfen. Aber wenn man Vertrauen hat, keine Angst, viel Hingabe, wenn man sich der Welle in die Arme legt und hinüberschaukelt, wenn man sein Gleichgewicht hat und seinen ruhigen Atem, trägt es doch.“
Sie erleben den Sommer gemeinsam. Er, der ihr die Landschaft als Hintergrund ihrer Liebe präsentieren wollte, taucht mit ihr ein in die Lebendigkeit, die Sinnlichkeit, die Wärme und Fülle dieses Sommers in dieser Landschaft: „Das Leben erfüllt sich auf der Stelle. Wir haben keine Unruhe mehr.“
Es ist ein poetischer, sehr persönlicher, vor allem überhaupt nicht moralisierender Roman einer jungen Frau in den Dreißigern des letzten Jahrhunderts – „Hindenburg und Hitler sind weit“ – der für mich über diese Zeit hinaus Gültigkeit hat und nachklingt, gerade in dieser (Corona) Zeit, in der Menschen in hohem Maße auf sich zurückgeworfen sind und sich vielleicht noch intensiver mit der Sinnfrage beschäftigen. Was ist wichtig in meinem Leben? Welche Konsequenzen bin ich bereit in Kauf zu nehmen, wenn ich zu mir, meinen Werten stehe?
Eine in jeder Hinsicht gelungene Erstausgabe. Auf jeden Fall: sehr lesenswert!
Helen Wolff, Hintergrund für Liebe, Roman, Mit einem Essay v. Marion Detjen, Einbandillustration v. Kat Menschik, Weidle Verlag Bonn, 2020, 215 S., ISBN 987-3-938803-96-7