Angélica Lopes, Die Frauen der Familie Flores

Angélica Lopes, Die Frauen der Familie Flores

„Es war immer schon ein Akt der Auflehnung gewesen, wenn auch unsichtbar.
Dass es gefährlich war, was wir taten, war uns bewusst. Und vielleicht war es genau dieses Risiko, entdeckt zu werden – so winzig es war und für andere Augen fast nicht zu erkennen, kunstvoll in die Muster unserer Stickereien verwoben -, das uns mutiger werden ließ und uns dazu brachte, immer mehr zu wagen.“

Die ersten Zeilen deuten bereits auf die inhaltliche Spannung dieses Romans hin, der aus verschiedenen Zeitebenen besteht, die sich immer wieder ergänzen, erhellen und sich so allmählich zu einem Gesamtbild fügen.
Es geht um die Flores-Frauen, die um 1918 in Bom Retiro leben, und zwei ihrer Freundinnen: Eugênia und Vitorina und um Alice, die 2010 in Rio de Janeiro als Feministin und Aktivistin einen Schleier geschenkt bekommt und versucht, dessen Geheimnis zu entschlüsseln.

Auf den Frauen der Familie Flores liegt ein uralter Fluch – so sagt man und gibt es von einer Generation zur anderen weiter – der alle Männer dieser Frauen früh zu Tode kommen lässt und sie früh zu Witwen macht in einer Gesellschaft, die geprägt ist von der Herrschaft eines mächtige Coronels, eines Großgrundbesitzers, der über dem Gesetz steht. Denn er ist das Gesetz.

Die Flores-Frauen müssen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Und das gelingt sehr erfolgreich, da Vitorina, eine Freundin der Frauen, ein streng gehütetes Geheimnis der Kunst venezianischer Spitzenstickerei entdeckt und an die Flores-Frauen weitergegeben hat. Nach einer Weile sind ihre Stickereien über ihre Gegend hinaus gefragt. Unterstützt werden sie bei ihrer Arbeit durch Eugênia und Vitorina, die auch finanziell beteiligt werden.

„Wir waren nicht alle miteinander verwandt, doch die Kunst, Fäden und Garn in einzigartige Ornamente zu verwandeln, verband uns hier auf diesem Fleck Erde, wo die kleinen Dinge mehr zählen als die großen Ereignisse … (und) was wir als Einziges allein und aus eigenem Willen gestalten konnten: unsere Stickerei. Alles andere gehörte uns nie selbst.“

Diese finanzielle Selbstständigkeit lässt sie frei sein und unabhängig denken. Selbst der Fluch ermöglicht ihnen Freiräume, da sie nicht Gefahr laufen, verheiratet zu werden.

Eugênia, die Tochter des Polizeipräsidenten träumt zwar von einem Ehemann. Doch den will sie sich selbst aussuchen. Aber mit 15 Jahren wird sie zwangsverheiratet mit dem erheblich älteren, mächtigen und gewalttätigen Großgrundbesitzer Aristeu Medeiros Galvão. Alles Sträuben, Bitten und Flehen nützt ihr nichts. Auch ihre anfängliche Gegenwehr in der Ehe nützt nichts, wird sie doch vom Coronel mit körperlicher Gewalt, einschließlich nahezu täglicher Vergewaltigung gebrochen. Doch sie fügt sich nur scheinbar.
Sie hat bereits vor ihrer Ehe dafür gesorgt, dass sie sich mit ihrer Freundin Inês über in ihre Spitzenarbeiten eingestickten Botschaften verständigen kann. Inês – die allwissende Ich-Erzählerin dieses Romans – ist in den Code eingeweiht und hat ihr – über das Tragen eines gelbes Kleides auf der Hochzeit Eugênias – versprochen, sie stets nach Kräften zu unterstützen. Und Eugênia stickt um ihr Leben, indem sie ihren Stickereien ihren Kummer, ihr Leid und die Gewalttätigkeiten ihres Mannes anvertraut.

Und dann plant Eugênia – mit Hilfe einer geheimen Frauenorganisation – ihre Flucht aus der Ehe, der Region, um dem Einflussbereich ihres Mannes zu entkommen. Die Frauenorganisation hat ihre Unterstützung zugesagt. Eingefädelt ist das alles mit Inês Hilfe und Eugênias Stickereien.

Es ist ein spannend erzählter, faszinierender Roman über die Macht von Frauensolidarität in einer patriarchisch geprägten, kirchlich dominierten Gesellschaft, in der ein öffentlich ausgetauschter Kuss die baldige – natürlich unauflösliche – Ehe zur Folge hat, unabhängig davon, ob es nur ein einseitiger oder einvernehmlicher Kuss war. Scheidungen waren – undenkbar, zumindest in Bom Retiro. Woanders wurde – heimlich zwar – schon darüber nachgedacht.

Alice ist in ihren Nachforschungen recht erfolgreich und geht auf sehr kreative Weise mit dem Schleier und der Geschichte der Flores-Frauen um.
Wirklich ein lesenswerter Roman.

Angélica Flores, Die Frauen der Familie Flores, Roman, a.d. Portugiesischenv. Michael Kegler, hanserblau Verlag, München 2025, 302 S., ISBN 978-3-446-28445-6

2 Gedanken zu „Angélica Lopes, Die Frauen der Familie Flores

  1. Oh ja, das tönt sehr spannend und höchst interessant.
    Das heimliche Komplott der Frauen wird in deiner Beschreibung und den beigefügten Zitaten greifbar und klingt verheissungsvoll.
    Danke fürs Präsentieren.
    Und lieben Abendgruss, Brigitte

    1. Gern, ich finde es immer wieder faszinierend, wie Frauen sich unterstützen und sich ihrer Wirkmächtigkeit bewusst werden.
      Traurig ist allerdings, dass machen Frauen auch heute noch so oder ähnlich behandelt und unterdrückt werden.
      Mögen solche Bücher in der Zukunft nicht mehr geschrieben werden müssen.
      Herzliche Abendgrüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert