Anja Kampmann, Die Wut ist ein heller Stern

„Manchmal, wenn ich aufwache, denke ich, es ist alles gar nicht wahr.“
Doch Hedda ist immer wieder in der Lage, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Sie hat es geschafft, sich ihren Traum, Artistin im „Alkazar“, einem Varieté auf der Reeperbahn, zu werden. Doch in den Dreißigern des letzen Jahrhunderts tauchen dort immer mehr graue Uniformen auf, machen sich breit, mit ihren „Ritas“ im Schlepptau, so dass für Hedda und die anderen Mädchen die Freiräume immer enger werden. Das Naziregime geht zunehmend gegen Prostitution und Varietés aller Art vor, den Mädchen droht die Einweisung in Versorgungsheime, um den Volkskörper reinzuhalten, den die Grauen jedoch unentwegt für sich nutzen.
Und Hedda überwindet ihre Abscheu den Grauen gegenüber, denn sie hat einen gehbehinderten kleinen Bruder, Pauli, den sie innig liebt, den sie immer mehr unterstützen und verstecken muss, damit er nicht abgeholt wird.
„Aber nein, ich gehe nicht mit dem Grauen, ich sehe all das in der Art, wie er seine Stiefel abstreicht, wie sie am Morgen im Flur stehen. … Schsch. Es gibt keine Nacht. Der Graue kommt mehrmals, er mag es, wenn ich in seinem Polsterbett liege, mir ist es gleich. Ich kann es jetzt nicht ändern, fünf Mark die Nacht, damit Pauli in Sicherheit ist.“
Sich mit dem Grauen einzulassen, bedeutet auch einen gewissen Schutz für Hedda, den ihr Arthur, der Varietébesitzer nicht mehr geben kann. Er ist ins Visier der Gestapo gekommen, wird inhaftiert und flieht später. Hedda muss bleiben, denn da ist ja noch Paul, der zu Hause auch nicht wohlgelitten ist und auch bei seinem Bruder Jaan im Hafen keinen Unterschlupf finden kann.
Unbehaust, unbehütet kümmert sich Hedda unermüdlich um ihn, macht sich zudem auch Sorgen um Jaan, der in die Arktis fahren soll, „unter ihrer Flagge, das hässliche Hakenkreuz dreht sich am Heck von allen Schiffen, die im Hafen liegen, das ist das neue Gesetz. Schsch.“
Das Aufkommen der Nationalsozialisten in den Dreißigern, das sich in alle Lebensbereiche einschleicht und ausbreitet, Angst und Unsicherheiten schürt, indem es die herrschende Arbeitslosigkeit der Menschen zu Nutzen weiß, erleben Leserinnen mit eindrücklicher Sprache beschrieben aus der Perspektive Heddas, die zunehmend rastloser wird, weil ihr alle Sicherheiten – die wenigen, die sich überhaupt hatte – wegbrechen. Sie ist auf sich allein gestellt. Auch ihre Mutter ist ihr da keine Unterstützung. Doch ihr Widerstand ist ungebrochen, selbst als sie im Versorgungsheim Farmsen landet:
„Da steht sie die Fürsorgerin. Ein Rübenmund und dieser vorwurfsvolle Blick.
Indem ihr euch selbst erniedrigt, beschmutzt ihr zugleich die Reinheit des Volkskörpers.
Pah. Die Rita starrt sie mit Rehaugen an, aber ich lache, du kratziges Biest, ich geh dir an die Grugel, ich häcksel dich klein wie das stinkende Suppengrün auf dem Schneidebrett. Pah!
Sieht sie nicht, mit wem sie redet? Sieht sie uns nicht? Weiß sie nicht, dass es gar nicht anders ging, während der großen Flaute? Die Männer gingen stempeln, finden nichts, halten Schilder in die Straßen. Übernehme jede Arbeit. Die Männer halten Schilder hoch, und wir? Hanni hebt die Röcke, lebt unsolide im Gängeviertel. Erzähl uns, wer wir sind, all das siehst du nicht.“
Leichte Kost ist dieser Roman sicher nicht. Aber wegen seiner Perspektive und Sprachgewalt ein wichtiger in der Sammlung der Romane, die sich mit dem Naziregime und seinen katastrophalen Auswirkungen auch auf die damaligen deutsche Bevölkerung, befassen. Die damals keine Stimme hatten wie Hedda. Die hat ihr Anja Kampmann gegeben. Und sie hallt noch lange nach der Lektüre nach. In jedem Fall: lesenswert!
Für diesen Roman wird Anja Kampmann mit dem Hans-Fallada-Preis 2026 ausgezeichnet. Er ist mit 10.000 € dotiert.
Anja Kampmann, Die Wut ist ein heller Stern, Roman, Hanser Verlag, München 2025, 495 S., ISBN 978-3-446-28120-2
4 Gedanken zu „Anja Kampmann, Die Wut ist ein heller Stern“
Das ist ein Buch, dass mich in seiner ganzen Hilflosigkeit, Härte und Wahrhaftigkeit total anspricht. Danke für deine wunderbare Besprechung.
Der Hans-Fallada-Preis ist sicher hoch verdient!
Einen lieben Heutegruss,
Brigitte
Es ist wirklich lesenswert. Man erhält zudem noch einen ganz speziellen blick auf Hamburg ;)
Liebe Grüße
oh, Anja Kampmann! danke! ich las von ihr „Wie hoch die Wasser steigen“, kannte sie vorher gar nicht, aber dieses buch hat mich sehr gefesselt. nun ein neues? das ist großartig!
lieber gruß
Sylvia
Und ich kenne „Wie hoch die Wasser steigen“ von ihr noch nicht.
Danke für den Tipp und :
herzliche Grüße