
Chantal Akerman, Eine Familie in Brüssel

Dieser nur 94 Seiten starke Roman erzählt – in erlebter Rede aus unterschiedlichen Perspektiven – von einer in der Welt verstreuten Familie, deren Mitglieder namenlos bleiben, und das auf recht distanzierte Weise:
„Und dann sehe ich noch eine große fast leere Wohnung in Brüssel. Darin nur eine Frau oft im Morgenmantel. Eine Frau die grade ihren Mann verloren hat. …
Ich sehe sie vor allem am Telefon und vor ihrem Fernseher auf dem Sofa liegen manchmal eine Zeitung vor sich. Wenn sie telefoniert spricht sie sehr laut und mit einer Munterkeit die oft falsch klingt manchmal aber echt.“
Das Telefon ist die Verbindung zur Welt, auch zu ihren zwei Töchtern, ihrer „ganz nahen Familie“, denn auch die ist „sehr weit weg“:
„Sie haben ihr Leben. Jeder hat sein Leben. Vor allem wenn man weit weg ist. Und sogar wenn man in der Nähe ist aber wenn man in der Nähe ist spürt man das am Telefon und man sagt bis bald und manchmal sieht man sich bald.“
Das, was wie Verständnis klingt, ist eher Ausdruck von Beziehungslosigkeit, da es ein wirkliches Miteinander, ein Verständnis füreinander nicht gibt. Denn auch wenn man sich bald sieht, redet man darüber, was es zu essen geben wird, nicht aber über das, was einen (innerlich) beschäftigt. Das Wesentliche bleibt ungesagt. Da ist von einer bevorstehenden Operation der Mutter die Rede, zu der sie sich entschlossen hat. Doch darüber gesprochen wird nicht. Man erfährt auch nicht, weshalb sie sich entschlossen hat, sich einer Operation zu unterziehen, nur dass sie darauf wartet, das ihre kinderlose Tochter da sein wird.
Die Familie hat eindeutig einen jüdischen Hintergrund, der aber nur ab und an durchschimmert. Da lassen dann Todesdaten aufhorchen, sonst aber erfährt man nur Vages:
„Meine Schwester ist jünger als ich … und sie hat Humor. Trotzdem hadert sie mit dem Dasein und sie leidet immer noch weil wir unsere Eltern in den Lagern verloren haben und sie wird wütend wenn sie davon spricht und sie wird auch wütend auf Gott ich spreche nicht davon was bringt das und mein Mann sprach auch nie über solche Sachen … und er ließ die traurigen Dinge aus deswegen hatte ihn alle gern.“
Jetzt ohne Mann und Hund will sie „die nahe Familie in der Welt besuchen können“. Sie will, dass das „Leben einfach ist, sie weggehen kann, wenn sie möchte.“ Doch daran hat man als LeserIn berechtigte Zweifel:
„Es gibt jede Menge Sachen von denen man sagt man wir sie machen aber man macht sie nicht und meistens tut es einem hinterher leid.“
Es ist ein nachwirkender, weil eindrücklicher Roman über Einsamkeit und Beziehungslosigkeit (im Alter).
Dieser Roman von Chantal Akerman, Tochter jüdischer Holocaust- Überlebender aus Polen, ist posthum erschienen. Die Autorin hat sich 2015 das Leben genommen.
Chantal Akerman, Eine Familie in Brüssel, a.d. Franz. v. Claudia Steinitz, Berlin 2025, 94 S., ISBN 978-3-0358-0756-1
2 Gedanken zu „Chantal Akerman, Eine Familie in Brüssel“
Spannend, der Inhalt und auch das, was du darüber schreibst.
Tönt nach sehr viel Verlorenheit.
Einen lieben Gruss,
Brigitte
Ja, das trifft‘s.
Liebe Grüße