
Mely Kiyak, Frausein

„Ich wurde für ein Leben im Kollektiv erzogen. Für ein Leben mit familiären Beziehungen, wo man sich für den Fortbestand der Beziehungen wie in einem Tauschgeschäft auf ein Mindestmaß an Bedürfnissen reduzieren muss.“
„Es schaffen.“ ist Teil dieses Kollektivs, ein hoher, hochgehaltener, kaum hinterfragter Wert:
„Immer soll man etwas schaffen. Und wenn man da ist, wo man hinsollte, was kommt dann?„
Und was ist das Ergebnis dieses „Schaffensprozesses“?
„Überall traurige Frauen. Mit Traurigkeit zugedeckte Frauen, die mit ihren Männern herumreisen, die sich Beschäftigungen aufhalsen, deren Zweisamkeit mit Männern aus nichts anderem besteht, als dass zwei Leute eine Wohnung, ein Auto, ein Konto, die Erziehung gemeinsamer Kinder und den Zahnputzbecher miteinander teilen. Frauen, denen die Trauer darüber ins Gemüt und ins Gesicht eingezeichnet ist. … Und alle hatte sie immer Pläne. Immer sollte irgendwann etwas anders werden. Besser. Leichter. Schöner. Irgendwann.“
Da stellt sich dann fast zwangsläufig die Frage: Wie ist das zu verhindern? Wer oder was ist man, außerhalb eines solchen Kollektivs? Was sind die ureigensten Interessen? Und wo findet sich Unterstützung bei einer eher individuellen Entwicklung?
„In meinem Milieu fand ich keine Verbündeten. Dort, wo ich nicht nach ihnen suchte, fand ich sie.“ Für Mely Kiyak sind sämtliche Begegnungen, Erfahrungen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, die sie wahrnimmt und für sich zu nutzen weiß.
„Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Da ist kein Hadern. Kein Bedauern. Kein Mangel. Aber auch kein Überfluss. Davon möchte ich erzählen.“
Mely Kiyak erzählt also in diesem Band „Frausein“ von ihrer Sozialisation als Kind eines kurdischen Einwanderers zwischen zwei Kulturen in den 80igern und ihrer Entwicklung hin zu einer selbstständigen Frau mit ganz eigenen Interessen, die so vollständig von dem abweichen, was – eigentlich in beiden Kulturen – für Frauen in der Regel vorgesehen war und zum Teil auch noch ist:
„Welches Leben würde ich führen, wenn ich auf niemanden Rücksicht nähme?“
Und sie erzählt davon in mosaikartigen Epsisoden, die sich allmählich, während des Erzählens zu einem nachvollziehbaren Entwicklungsprozess fügen, der nicht nur die Suche einer kurdischen Einwanderin zwischen den Kulturen darstellt, sondern weibliche Sozialisation in Deutschland überhaupt thematisiert und hinterfragt.
Und sie entdeckt nach und nach, dass sie sich selbst genug ist und einfach nur schreiben will:
„Auf die ehrliche an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: mit mir. einfach nur mit mir.“
Ihr Eltern und ihre Umebung haben unterschiedlich ausgeprägte Schwierigkeiten mit ihrer Entwicklung. Doch welche Unterstützung, welche Liebe steckt in dem Satz ihres Vaters:
„Du kannst werden, was du willst.“
Es ist ein äußerst lesenswertes Buch, also sehr zu empfehlen, auch für „ältere Semester“. Für mich war es noch einmal eine willkommene Möglichkeit, meine eigene Entwicklung zu reflektieren und Revue passieren zu lassen:
„Es gibt keine Anfänge. Es gibt nur den Blick zurück.“
Mely Kiyak, Frausein, München 2020, 127 S. ISBN 978-3-446-26746-6