
Mieko Kawakami, All die Liebenden der Nacht

Wenn’s draußen zu heiß für fast alles ist, ist ein Buch eine sinnvolle Beschäftigung. Jedenfalls für mich. „All die Liebenden der Nacht“ – gerade erschienen – ist allerdings ähnlich wie „Heaven“ keine leichte „Sommerlektüre“, auch wenn’s scheinbar leicht zu lesen ist.
Das Cover trifft die Lebenssituation der Protagonistin Fuyuko sehr gut dar. Fuyuko ist eine junge Frau, eine sorgfältige, äußerst pflichtbewusste Korrekturleserin, einsam und mit sehr geringem Selbstwertgefühl. Seit sie freiberuflich tätig ist, hat sie fast keinen Kontakt mehr zu Menschen. Ab und zu nutzt sie die Abgabe der korrigierten Manuskripte, um ihre Wohnung zu verlassen. Bei einem Schaufensterbummel fällt ihr ihr Spiegelbild ins Auge:
„Die Gestalt, die sich von der Fassade, den Schildern, Wänden und Fenstern des Nebengebäudes dunkel abhob, sah erbärmlich aus. Nicht bedauernswert oder elend, nein, richtig erbärmlich sah die Frau in der Glascollage aus. Aus ihrem Zopf hatten sich Haare gelöst und standen ihr wirr um den Kopf. Sie hatte hängende Schultern, tief liegende Augen und kurze Arme und Beine. Nur der Hals sah unangenehm lang, dürr und sehnig aus. Die Wangen waren so eingefallen, dass sich von der Nase in Richtung Mund tiefe Falten gegraben hatten. Die Frau, die mir entgegensah, war ich. In Strickjacke und verwaschenen Jeans. Vierunddreißig Jahre alt. Allein. Eine erbärmliche Frau, die selbst hier in der Stadt und bei schönstem Wetter nicht wußte, wie man lebt. Die eine Tasche mit Dingen umklammerte, die andere Leute dankend ablehnen oder sofort wieder wegwerfen.“
Ihre diversen Versuche, unter Menschen zu kommen, sind nicht wirklich erfüllend. Eigentlich schafft sie das nur im alkoholisierten Zustand, wobei sie Alkohol nicht verträgt, der sie manchmal in arge Bredouille bringt. In einer dieser Situationen begegnet sie dem etwa zwanzig Jahre älteren Herrn Mitsutsuka, der sie offensichtlich sein lassen kann, wie sie ist, selbst wenn sie ihm angetrunken gegenübersitzt. Denn ab und zu treffen sich die beiden in einem Cafe. Trotz der zu Beginn nur sehr wenigen Worte, der sich oft hinschleppenden Gespräche, entwickelt sie eine sehr zarte Verbindung zu ihm. Dennoch, oder eher gerade deswegen ist ihre Unsicherheit sehr groß:
„Unterhalten Sie sich gerne mit mir?“ (…) „Und ob. Ich unterhalte ich immer gerne mit Ihnen.“
„Was genau gefällt Ihnen daran?“, fragte ich.
„Was genau mir dran gefällt?“, fragte er verwundert zurück. „Nun … das ist eine schwierige Frage.“ .(…) „Tut mir leid“, sagte er nach einer Weile. „Die kann ich Ihnen auf Anhieb nicht beantworten.“
Als ihr klar wird, dass sie ihn liebt, von ihm träumt, die „Traumberührungen“ sogar sehr genießt, im Gegensatz zu ihrem „ersten Mal“, das eher einer Vergewaltigung durch einen Mitschüler glich, zieht sie sich völlig zurück, reduziert ihr Arbeitspensum, geht nicht mehr ans Handy, lädt den Akku nicht mehr auf und ist für ihre Arbeitgeberin nur noch per Mail zu erreichen. Verfällt in eine einer Depression ähnelnden Lethargie, in der sie ihr Leben Revue passieren lässt und fragt sich:
„Hatte ich mich jemals willentlich für etwas entschieden, hatte ich jemals etwas aus eigenem Antrieb zuwege gebracht? Nein, nie. Nichts. Deshalb ging es mir jetzt so, war ich hier, allein. (…) Aus Angst, verletzt zu werden, aus Angst Fehler zu machen, hatte ich nie gewählt, hatte ich mich nie für etwas entschieden, hatte ich nie etwas getan.“
„All die Liebenden der Nacht“ ist das berührende Portrait einer jungen japanischen, sehr einsamen Frau mit äußerst geringem Selbstwert, die trotz fester Gewohnheiten und Strukturen in ihrem Alltag ein Leben ohne greifbaren, erfüllenden und bewussten Sinn lebt. Die sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet hat und sich dennoch machmal mehr als allein fühlt. Es ist das Leben einer Korrekturleserin, das im Wesentlichen in fremden Wörtern stattfindet, so dass zu ihrer eigenen Unsicherheit noch die Unsicherheit hinzukommt, ob sie das, was sie sagt, auch mit eigenen Worten oder eher mit fremden, also mit Zitaten zum Ausdruck bringt.
Kontakte kann sie nicht wirklich, so dass es zu keinem echten Miteinander kommt. Andere Frauen sind mir ihren Lebensentwürfen als unbeachtete, aus dem „Leim“ geratene Hausfrau und Mutter auf der einen oder als unabhängige, äußerst chic gekleidete Feministin mit häufig wechselnden Männerbeziehungen auch keine wirklichen Alternativen und Vorbilder.
Fuyuko lebt Jahre nach den Begegnungen mit Herrn Mitsutsuka wieder wie vorher. Dennoch hat ihr dieser Kontakt neue Perspektiven eröffnet: die Wirkung von Musik – faszinierend beschrieben – , besonders der von Chopins Wiegenlied, ihre Bewusstheit für die schon vorher vorhandene Faszination für Licht und einen anderen Zugang zu Wörtern, als die beim Korrekturlesen:
„All die Liebenden der Nacht. Diese Zeile war mir in den Sinn gekommen. (…) Es konnte sich um einen Gedicht oder Filmtitel handeln, den ich irgendwann einmal gelesen hatte. Vielleicht kamen sie auch aus mir selbst. Ich wusste es nicht. Das ist das erste Mal, dass du einfach so, nicht auf jemandes Manuskript, nicht auf irgendwelche Fahnen, sondern einfach so etwas geschrieben hast, (…) Ich wusste nicht, was diese Zeile bedeutete. Ich wusste nicht, wozu sie diente, aber sie hatte den Weg in mein Herz gefunden, und da würde sie auch bleiben.“
Diese Feststellung und der letzte Satz des Romans lässt ein wenig Hoffnung aufblitzen, dass Fuyuko mit dem was ist, wie es ist, einen Weg gefunden hat:
„Das Licht war weg, aber bald, am nächsten Morgen, wäre es wieder da.“
Mir hat der Roman zugesagt.
Jetzt werde ich mir auch ihren Roman „Brüste und Eier“ vornehmen.
Mieko Kawakami, All die Liebenden der Nacht. Roman, übersetzt von Katja Busson, Dumont Verlag, Köln 2023, 237 S. ISBN 978-3-8321-8229-8
3 Gedanken zu „Mieko Kawakami, All die Liebenden der Nacht“
Es erinnert mich ein wenig an das auch so schöne Buch „Oben Erde, unten Himmel“…
Ja, zumindest scheinen japanische Autorinnen das Thema „Einsamkeit“ im Fokus zu haben.
Liebe Grüße