Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke

Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke

Wie kommt eine zur Emigration aus Deutschland gezwungene in England lebende Jüdin dazu, im Nachkriegsdeutschland mit einer Ausstellung von Kinderbüchern eine „Kinderbuchbrücke“ als Möglichkeit zur Re-Education zu bauen, auf der sich zunächst Kinder aus Deutschland und später dann Kinder an „vielen Zipfeln der Welt“ begegnen können?

Welcher Zauber, welche Magie liegen in diesem Wort „Kinderbuchbrücke“.

Jella Lepman folgte nach langem Hadern der „Aufforderung des amerikanischen US-Hauptquartiers, als ‚Beraterin für kulturelle und erzieherische Belange der Frauen und Kinder‘ nach Deutschland zurückzukehren, … weil sie wusste, ‚dass Kinder keine Schuld an dem haben, was die Erwachsenen verbrechen.‘ „

Von ihren abenteuerlichen Bemühungen, ihren vielgestaltigen Schwierigkeiten, eine „internationale Jugendausstellung“ zunächst in Deutschland aufzubauen, plaudert sie ausführlich in diesem Buch, das sie ausdrücklich als „Biographie einer Idee“ verstanden wissen will. Persönliche Aspekte, die nicht direkt ihre Arbeit betreffen, findet man in ihren Beschreibungen nicht.

Von den vielen Leben der politisch interessierten und engagierten Journalistin und Schriftstellerin Jella Lepman, die immer auf ihrer Selbstständigkeit bestand, erzählt Anna Becchi dann allerdings im Anhang. Schon früh war Jella Lepman – nach dem plötzlichen Herztod ihres Mannes mit nur fünfundvierzig Jahren – als alleinerziehende Mutter für den sechsmonatigen Sohn Günther und die knapp drei Jahre alte Anne-Marie finanziell allein verantwortlich, da die Lebensversicherung ihres Mannes infolge der Inflation einer „rasenden Geldentwertung“ unterlag.

„Ihnen trotz allem eine glückliche Kindheit zu geben. Die vom Schicksal gestellte Doppelaufgabe der Mutter und der berufstätigen Frau war nicht leicht zu bewältigen, aber auch beglückend.“

Als vom Schicksal gestellte Aufgabe hat sie dann auch die Aufgabe empfunden, die Ausstellung mit internationalen Kinderbüchern im zerstörten Nachkriegsdeutschland zu organisieren, eine logistische und finanzielle Meisterleistung.

I always think that I have been and still am an instrument, chosen by fate or what you may call it. One night the idea to create international understanding through children’s book fell just in my heart like a star. I had not even a choice. I had to do it.“

Sie verstand es – diplomatisch sehr geschickt, dennoch zielstrebig und willensstark – hochrangige und einflussreiche Persönlichkeiten im Inland, vor allem aber in den USA für ihre Sache der Kinder zu interessieren.

Impuls für sie war stets das „Buchfieber“ der vielen (Ruinen-) Kinder, die nicht nur Kleidung und Essen, sondern auch geistige Nahrung in Form von Büchern brauchten, die ihnen in der Trostlosigkeit, Tristesse ihrer zerstörten Welt Perspektiven zeigen konnten, eine Weite, die ihnen zwölf Jahre lang vorenthalten worden war.

Die Ausstellung war ein voller Erfolg. Eine Millionen Besucher hatten sie besichtigt, viele Bücher waren vom Anfassen und Berühren kaum noch in einem „lebensfähigen Zustand“.

Jella Lepman setzte sich – für sie einfach nur folgerichtig – für die Idee einer Leihbibliothek mit Freihandsystem ein, damals ein Novum in Deutschland, von vielen argwöhnisch beäugt oder gar abgelehnt. Sie aber sah nur die Sehnsucht der Kinder, selbstständig Bücher auszuleihen, zu lesen und mit ihrer Phantasie auszumalen.

„Kann Büchern etwas Schöneres geschehen, als zerlesen zu werden?“

Es folgten später Diskussions- und Rezensionsrunden über Bücher mit den Kindern, Lesungen mit Schriftstellern und Schauspielern, Puppentheateraufführungen, Aufführungen von Theaterstücken, die die Kinder unter Anleitung z.B. von Erich Kästner schrieben. Für die einen eine Besonderheit, eine Art „Kinderuniversität“, für andere überflüssiger „Zirkus“.

Elternabende, die Installierung eines Elternbeirates folgten, damit Eltern über diesen Weg die Möglichkeit bekamen, ihre politischen Ansichten zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Denn die Buchdiskussionen und -rezensionen der Kinder legten indirekt Zeugnis ab vom immer noch vorherrschenden nationalsozialistischen Gedankengut der Eltern, ihrer Verharmlosung oder gar Verdrängung der Nazigreuel.

Später gab es dann auch (Dichter-) Lesungen, vorlesungen, Filmvorführungen, Puppentheateraufführungen und ein Malatelier für Kinder und Jugendliche bis hin zu einer Kinder UN, parallel zur New Yorker Erwachseneninstitution. In der Kinder UN hatte Deutschland allerdings nicht nur eine beobachtende Position inne, sondern schon gleichberechtigter Partner.

War ein Projekt auf den Weg gebracht, so hatte Jella Lepman bereits zig weitere Ideen, die in die Welt sollten: Werksbibliotheken, Kongresse, Verleger und Übersetzer für ausländische Kinderbücher finden und umgekehrt für die Verbreitung deutscher Kinderbücher im Ausland sorgen. Welch unglaubliches Energiebündel diese Frau war. Und immer noch so wenig bekannt.

Dieses Buch legt beredetes Zeugnis von einer mutigen, friedliebenden, emanzipierten Frau ab, einer „visionären Individualistin“, die sich auch von vielen Rückschlägen und (scheinbaren) Unmöglichkeiten und Unwägbarkeiten nicht abhalten ließ und für viele sicher „keine einfache Zeitgenossin war, aber Großartiges schuf.“ Eine Idee, die sicher auch heute noch die Notwendigkeit vieler „Kinderbuchbrücken“verdeutlicht. Denn wie viele Kinder leben auch heute in Not, Elend, Kriegsgebieten ohne ausreichend Nahrung, Kleidung und ja auch Büchern.

Ergänzt werden die eigenen, anregend erzählten Ausführungen Jella Lepmans durch ein Vortwort von Christiane Raabe, einem Kapitel „Die vielen Leben“ der Jella Lepman von Anna Becchi und zahlreichen Fotos und Abbildungen sowie ausführlichen Anmerkungen und einem Personenregister.

Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke, Antje Kunstmann Verlag, München 2020, 300 S., ISBN 978-3-95614-392-2

6 Gedanken zu „Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke

  1. Wunderbar, was du uns hier vorstellst.
    Was für eine bewundernswerte, starke Frau und was für ein grossartiges Projekt!
    Ich bin tief beeindruckt.
    Herzlichen Gruss zum Wochenbeginn,
    Brigitte

  2. Das war ich beim Lesen auch.
    Und obwohl ich mich als Leseratte bezeichnen würde, habe ich von der Arbeit dieser Frau und der noch heute bestehenden Stiftung mit Sitz in München noch nichts gehört.
    Herzliche Grüße

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