Anna Stern, das alles hier, jetzt.

Anna Stern ist für ihren Roman „das alles hier, jetzt“ mit dem diesjährigen Schweizer Buchpreis ausgezeichnet worden:
«Anna Stern hat einem der ältesten Themen der
Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen.“
So heißt es in der Begründung der Jury.
In der Tat, der Tod eines geliebten Menschen ist zig mal literarisch verarbeitet worden. Jemand stirbt. In diesem Roman ist es Ananke, der sehr jung, nach kurzer Krankheit stirbt. Sein Freundeskreis trauert um ihn. Jeder versucht auf jeweils eigene Weise, den Verlust zu verarbeiten. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Die Form, in der Anna Stern diese Trauerarbeit erzählt, schon.
Es beginnt mit durchgängiger Kleinschreibung, die ein wenig für Orientierungsschwierigkeiten sorgt, unvollständige Sätzen „ananke hat hier. ihr habt hier. einst.“ tun ihr übriges, widersetzen sich dem gängigen Leseverhalten. Sätze müssen mehrfach gelesen werden, da sie sich nicht immer sofort erschließen.
Dann gibt es eine schwarzgedruckte linke Seite, die das Unumstößliche der Gegenwart erzählt:
ananke stirbt an einem montag im winter, nachmittags zwischen sechzehn und siebzehn uhr.
Nur dieser eine Satz auf der linken Seite. So beginnt der Roman.
Auf der rechten Seite liest man dann in blassgrauer Schrift:
wir schenken uns nichts, das einzige, was wir uns geben, sind unsere namen: ananke gibt mir den namen ichor.
Wer dann glaubt, er werde eine Ich-Erzählung lesen, wird wiederum ent-täuscht:
um dieselbe zeit anfänglich unerklärt, der wechsel vom ich zum du.
Und wieder nur dieser eine Satz, nachdem man auf der linken schwarzgedruckten Seite vom Wetter am Todestag Anankes hat lesen können.
Es dauert ein wenig, bis man die Choreografie verstanden und für sich eine Lesart gefunden hat: man liest – wie vorgegeben – und wechselt regelmäßig zwischen Gegenwart und Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Ananke oder man entscheidet sich, die unterschiedlichen Zeiten nacheinander zu lesen, erst Gegenwart, dann Erinnerungen.
Wie auch immer, der Roman ist herausfordernd, zum Teil auch verwirrend. Ein Abbild der Hinterbliebenen, die nicht wissen, wie sie die Lücke schließen, wie sie sich aktiv mit Anankes Tod auseinandersetzten sollen? Auch das Beziehungsgeflecht untereinander erschließt sich nicht immer.
In jeder Hinsicht klarer wird es dann, als in der Gruppe plötzlich eine völlig verrückte Idee entsteht und sie sich auf eine – eigentlich unmögliche – Reise begeben. Der Roman wechselt von einer eher nach innen gerichteten Ansicht in ein Road-Movie.
Ob der Roman eine realistische Möglichkeit von Trauerverarbeitung zeigt, da bin ich mir ziemlich unsicher. Doch das ist vielleicht ja auch gar nicht Anna Sterns Motivation. Ob ein altes Thema in neuer Form erzählt, bereits ein Kriterium für gute Literatur ist, muss ich zum Glück nicht beurteilen.
Anna Stern, das alles hier, jetzt, Roman, Elster & Salis AG Zürich 2020, 248 S., ISBN 978-3-03930-000-6