C. Bernd Sucher, Mamsi und ich

Noch als Erwachsenen verfolgen B. Sucher Ereignisse seiner Kindheit im Traum:
„Mein Vater erscheint in meinem Kinderzimmer mit der Peitsche und brüllt: Lass diesen Judenscheiß. Großvater Oswald wollte, dass du Protestant bist. Ich prügele dich windelweich, wenn du nicht sofort aus der jüdischen Gemeinde austrittst und dich nochmals konfirmieren lässt, damals hast du geschummelt, ich weiß es genau! Kein Glaubensbekenntnis gesprochen! Du bist Christ. Meine Mutter eilt dazu: Du bist Jude! Mein Vater kommt näher. Er schlägt zu. Ich will fliehen. Ich will schreien. Doch meine Füße kleben am Boden, wie angeleimt; kein Ton bricht aus mir hervor. Mamsi umarmt mich.“
Die meisten Einzelheiten dieses Traumes haben sich real in seinem Leben so auch ereignet: Sucher versteht sich als getaufter Jude, der als Erwachsener auch einer jüdischen Gemeinde angehört. Seine Mutter musste ihn allerdings protestantisch erziehen, sonst hätte sie Bernds Vater nicht heiraten dürfen. Großvater Oswald war Antisemit.
Nach jüdischer Tradition aber ist Sucher Jude, da das Jüdischsein von der Mutter auf die Kinder übergeht.
Die Peitsche war fester Bestandteil seiner schon fast dressurmäßigen Erziehung:
„Daumenlutschen war in der Wahrnehmung meiner Mutter das zweitschlimmste Vergehen, das wie das Bettnässen Prügelstrafe zur Folge hatte. Prügeln musste mein Vater, meine Mutter zählte dabei laut die Schläge. Selbst kleine Fehlverhalten wurden geahndet. Lümmelte ich mich auf dem Sofa, hieß es, man schicke mich bald nach Farmsen. In diesem Hamburger Stadtteil … gab es eine geschlossene Anstalt für schwer erziehbare Kinder. … Meine Mutter war keine Rabenmutter. Sie wollte einen starken Sohn. Alles auf Anfang und los!“
Der „starke Sohn“ musste im Leben das erreichen, was ihr versagt geblieben ist: gesellschaftliche Anerkennung und Vermögen. In den Aufzeichnungen seiner Mutter findet Sucher mögliche Erklärungen bzw. das, was er liest kann dazu beitragen, das Verhalten der Mutter zum Teil zu verstehen. Auf einem kleinen Spiralblock liest er ihre „Lebensbeichte“, die sie 1946 aufgeschrieben hat, kurz nach der Hochzeit, noch vor seiner Geburt :
„Dies ist kein Tagebuch, kein Testament. Es ist eine Beichte. Sie enthält alles, was ich nicht sagen kann. … Was wünsche ich mir? – Nichts für mich! Alles für meinen Sohn. Er wird, wenn er denn geboren wird, richtigstellen, was ich falsch gemacht habe. Er wird, darum bitte ich Dich, G’tt, mein Leben, das im Konzentrationslager endete, obwohl ich lebe, fortführen und erreichen, was mir zu erreichen versagt geblieben ist. Versagt bleiben wird. Alles gäbe ich, ihn von Erfolg zu Erfolg zu führen. Sogar mein Leben. Er soll, er muss mir recht geraten. Körperlich und psychisch gesund.
Halt! Doch ich wünsche etwas für mich: Freude an Vertrautheit und Zärtlichkeiten.“
Diese Beichte lässt ihn das ganze Ausmaß ihrer Erfahrungen im KZ und nach ihrer Flucht erkennen.
Umarmungen, Zärtlichkeiten bekommt B. Sucher von seiner Mutter allerdings nicht. Dazu war sie nicht in der Lage, auch ihrem Ehemann gegenüber nicht, der allerdings auf seinen ehelichen Pflichten bestand. „Meine Mutter mied körperliche Nähe, sie hatte Körperkontakt sehr lange nur als Gewaltakt erlebt. Ja, sie war im Konzentrationslager vergewaltigt worden – und nicht nur von einem Mann.“
Doch davon weiß Sucher als Kind nichts. Erste Informationen bekommt er später von der Polin, die seiner Mutter zur Flucht aus dem KZ verholfen hat. Sie erzählt ihm auch von dem Liebesverhältnis seiner Mutter zu einem polnischen Adeligen, der sie aber nicht hat heiraten dürfen.
Alles weitere muss er recherchieren bzw. kann dies später Briefen, Unterlagen und Dokumenten entnehme, die er nach dem Tod seiner Mutter in ihren Sachen findet.
Erst durch eigene Recherchen findet Sucher heraus, dass das Schiff, mit dem seine Mutter und seine Großmutter nach Amerika fahren wollten, nie abgelegt hat, die beiden real also gar keine Chance hatten zu fliehen. Seine Mutter aber hat sich ihr Leben lang für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gefühlt, da sie damals darauf bestanden hat, noch einmal in ihre alte Wohnung zu gehen, bevor sie nach Amerika auswanderten. Aufgrund nachbarlicher Denunziation sind die beiden dann verhaftet worden. Ihre Mutter, seine Großmutter, ist im KZ an Erschöpfung gestorben.
Von dieser vermeintlichen Schuld kann er die Mutter nicht befreien, da sie über ihre Erlebnisse nicht redet.
„Könnte ich doch Mamsi zum Sprechen bewegen! Eigentlich müsste sie eine Psychotherapie machen. Sie ist körperlich gesund, doch sterbenskrank in der Seele.“
Der Wunsch, dabei zu helfen, dass es der Mutter gut geht, ist übermächtig, herausfordernd und lebensbestimmend. Denn schnell merkt das Kind, dass nur gute Leistungen die Aufmerksamkeit der Mutter erweckt, wenngleich immer mit Aufforderungen und Kritik verbunden: „Jetzt werd‘ schnell gesund, das bisschen Fieber schadet nicht. … Damals, ich war sechs, fiel zum ersten Mal der Satz, der mich bis heute verfolgt, wenn ich einmal länger schlafen, einmal nicht arbeiten, nicht lesen mag: ‚Du stiehlst dem lieben G’tt den Tag!'“
Im Grunde genommen schafft er es nie, seine Mutter zufriedenzustellen, denn nichts ist ihr wirklich gut genug. An allem hat sie etwas auszusetzen, selbst als Sucher später renommierter Theaterkritiker bei der Süddeutschen Zeitung, Honorarprofessor an der Münchener Theaterakademie August Everding, Moderator zahlreicher Fernsehsendungen ist und eigene Bücher veröffentlicht hat. Nichts reicht.
Die Mutter ist einfach unzufrieden, im Grunde genommen mit sich und ihrem eigenen Leben und darüber, dass der Sohn ihren Vorstellungen nicht entspricht. Eine Chance hat er nicht wirklich. Das aber zu erkennen, zu benennen und dann auch anders zu handeln, kann er kaum, ist er doch emotional stark von der Mutter abhängig und läuft sein Leben lang hinter ihrer Anerkennung und Liebe her. Und bekommt sie dennoch nicht – tragisch.
„Die Geschichte einer Befreiung“ als Untertitel erschließt sich mir nicht wirklich, ist doch durchgängig erkennbar, dass und wie sehr der Autor in der emotionalen Abhängigkeit steckt. Das Buch, das seinen eigenen persönlichen und beruflichen Werdegang mit der Rekonstruktion des Lebens seiner Mutter verknüpft, endet – zehn Jahre nachdem Tod seiner Mutter – mit folgenden Sätzen:
„Meiner Mutter hätte dieser Auftritt sehr missfallen.
Ich bin erwachsen.“
Ich weiß nicht, ob man denken soll: na endlich oder ob man diesen Sätzen misstrauen muss, denn „seine Mutter“ hat sich in seinem Denken, dem Beurteilen seiner eigene Lebensleistung scheinbar derart festgesetzt, dass man glauben kann, sie stecke als Kritiker immer noch in seinem Kopf. Im übrigen hat er das Buch seiner Mutter gewidmet, wem auch sonst?!
Das Buch ist keine Abrechnung, sondern eher der Versuch zu verstehen, die Mutter und die eigenen Schwierigkeiten bei der Selbstwerdung. Den eigenen Weg zu gehen, zur Homosexualtität und zum Judentum zu stehen, waren immer mit massivsten Abwertungen, Missachtungen, Liebesentzug der Mutter und mit demütigenden Prügeln verbunden. Sie war – wie viele Eltern zu der Zeit – davon überzeugt, mit ihren Erziehungsmethoden, die eindeutig aus dem „Katalog der schwarzen Pädagogik“ stammen, den Sohn zu dem formen zu können, den sie haben wollte.
Für mich insofern ziemlich unverständlich, hat sie doch im KZ die heftigsten Demütigungen und Prügelstrafen über sich ergehen lassen müssen. Warum sie in der Lage ist, ähnliches ihrem Sohn anzutun und mitleidlos die Anzahl der Peitschenhiebe zu zählen, verstehe ich nicht.
C. Bernd Sucher, Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung. Piper Verlag, München 2019, 255 S., ISBN 978-3-492-05857-5