Christoph Hein, Glückskind mit Vater

Christoph Hein, Glückskind mit Vater

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„Mein Leben lang habe ich mich bemüht, dem verhassten Schatten meines Vaters zu entgehen, ich war aus G. geflohen, hatte in Marseille Unterschlupf gesucht, ich hatte mich sogar um die Aufnahme bei der Fremdenlegion bemüht, nur um diesem gefürchteten und verhassten Gerhard Müller zu entkommen. Sollte ich mich durch Geld verführen lassen, nun doch zum Sohn meines Vaters zu werden?“

Dieser Satz umfasst den gesamten Lebenslauf des Konstantin Boggosch. Er ist der Ich-Erzähler in „Glückskind mit Vater“, ein pensionierter Schuldirektor, der anlässlich eines Jubiläums von einer jungen Journalistin um ein Interview gebeten wird. Sie plant einen Artikel, in dem alle in der Stadt noch lebenden Direktoren des Gymnasiums zu Wort kommen und auf einem Bild gemeinsam vor dem Schulgebäude zu sehen sein sollen. Boggosch lehnt ab, geht aber auf die Bitte der Journalistin ein, es sich doch noch einmal zu überlegen.

In einer Art Rückschau blickt Konstantin auf sein gesamtes Leben zurück. Der Leser erfährt – ähnlich wie der Protagonist – erst nach und nach, was es mit diesem Vater auf sich hat.

Boggosch hat ihn nie kennengelernt hat, weil dieser als Nazi-Kriegsverbrecher noch vor seiner Geburt hingerichtet worden ist. Dennoch bestimmt er sein gesamtes Leben, obschon Konstantin sich bemüht abstrampelt, diesen Vater loszuwerden, ihn verdrängt und verleugnet.

„Niemand wusste von meinem Vater, ich konnte ihn vergessen. Ich konnte ihn löschen. Auslöschen. Austilgen. In einem Nie-wieder ablegen.“

Selbst seine Frau weiß nichts von diesem Vater, der ihn aber immer wieder in Form seiner Akte einholt. Es ist fast wie das Hase-Igel-Spiel: der Igel ist immer schon da. Nahezu sämtliche schulischen und später beruflichen Versuche, eigene Träume zu verwirklichen, scheitern, weil er in der DDR, in die er kurz vor Mauerbau freiwillig zurückgekehrt ist, um seine Mutter wiederzusehen, mit diesem Vater keine Chancen hat, in gehobenerer Position Fuß zu fassen.

Der Roman schildert den verzweifelten Weg des Konstantin Boggosch in sein eigenes Leben, die damit verbundenen Schwierigkeiten, Einsamkeiten, Kämpfe und Ängste auf einfühlsame leise und unaufgeregte Art Weise. Es ist ein spannender, stiller Roman, kunstvoll und gekonnt eingebettet in die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die gesamtdeutsche Gegenwart.

Ein gut lesbarer Roman mit kleinen sprachlichen Schwächen: Immer mal wieder stolpert man über den ein oder anderen Bandwurmsatz. Es gibt einige inhaltliche, nahezu wörtliche Wiederholungen. Zu Beginn des Romans erhält Konstantin einen Brief vom Finanzamt, Abteilung Steuerfahndung, adressiert an Konstantin Müller mit der Nachforderung von fünfundvierzig Cent Kirchensteuer, der bei seiner Frau viele Fragen aufkommen lässt, die Konstantin ihr nicht zufriedenstellend beantwortet. Im weiteren Verlauf des Romans gerät dieser Brief dann völlig in Vergessenheit bzw. der Roman ist Antwort fast all ihrer Fragen. Und deswegen macht es letztendlich gar nichts. Der Roman ist absolut empfehlens- und lesenswert.

Christoph Hein, Glückskind mit Vater, Roman, Suhrkamp Verlag Berlin 2016, 527 S., ISBN 978-3-518-42517-6

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