
Eric-Emmanuel Schmitt, Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin

Eric-Emmanuel Schmitts gelingt es in seinen Büchern immer wieder, ernste Themen mit unglaublicher Leichtigkeit, Zartheit und menschlicher Wärme zu erzählen und damit zu berühren.
Der Ich-Erzähler von „Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin“ heißt Eric wie der Autor. Inwieweit das Buch autobiografische Züge trägt, weiß ich nicht, muss ich auch nicht wissen, ist dennoch sehr naheliegend.
Den Schiedmayer erlebt der neunjährige Eric als Eindringling, der sich „dauerhaft im Wohnzimmer aufhielt, schlafend, wach, meckernd, reglos, lästig. … Unsere Familie duldete diesen Parasiten seit drei Generationen“, bis zu dem Tag, an dem sich seine Lieblingstante Aimée an dieses Klavier setzt und Chopin spielt. „Noch am selben Abend verlangte ich, Unterricht zu bekommen, und eine Woche später begann ich, das Klavierspiel zu erlernen.“ Erics Ziel ist es, Chopin spielen zu können. Doch trotz all seiner Bemühungen und Übungen schafft er es nicht, „das Erschauern des ersten Mals“ noch einmal zu erleben.
„Irgendetwas entzog sich mir. Chopin floh mich. … er leistet mir Widerstand.“
Als Student gerät er dann an Madame Pylinska, einer in Paris lebenden Polin, bei der er Unterricht nehmen will. Ihre Unterrichtsmethoden sind mehr als eigenwillig. Die erste Stunde verbringt Eric unter dem Klavier liegend, mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen auf dem Boden, während Madame Pylinska spielt, eine Szene, die Daphne Patellis in einer ihrer Illustrationen dieses Romans festgehalten hat.

Entlassen wird Eric mit der Aufgabe, jeden Morgen im Jardin du Luxembourg Blumen zu pflücken, ohne den Tau, der sich nachts auf sie gelegt hat, fallen zu lassen. Bezahlen muss er die erste Stunde nicht. Auf seine Frage nach dem Warum, antwortet sie:
„Weil sie nur ein Ziel hat, Sie zu entmutigen. Habe ich Sie entmutigt?“
„Ziemlich.“
„Perfekt. Sie werden mich ab der zweiten Stunde bezahlen.“
Eric kommt wieder, bleibt und lässt sich auf ihre Unterrichtsmethoden ein, auch wenn er deren Sinn oftmals nicht versteht und innerlich meist erst Widerstand leistet. Dann aber bemerkt er allmähliche Veränderungen in seinem Leben und in seiner Art Klavier zu spielen. Immer mehr ist er auch von sich selbst überrascht. Doch Chopin spielen kann er noch immer nicht wie seine Lieblingstante Aimée. Den Zauber des ersten Mals ist offensicht unerreichbar.
Bis er dann seine Lieblingstante im Krankenhaus besuchen will, die allerdings überhaupt keinen Besucher empfängt, auch ihn nicht. Im Krankenhaus sieht er dann einen Schiedmayer stehen und spielt Chopin. In einem letzten Gespräch mit seiner Tante, die hinzugekommen ist, die er allerdings nicht ansehen darf, erfährt er dann , warum seine Tante Chopins Musik derart liebt, und welche Bedeutung Chopin in ihrem Leben hatte: Er eröffnete ihr nämlich eine „Welt, die mich zu mir kommen ließ. Kein Rückzug, eher eine Öffnung. Das ist es, was Chopin anbietet: einen Ort, wo man lieben kann. Lieben, was ein Leben ausmacht, ja sogar die Unordnung, die Angst, die Beklommenheit, den Aufruhr. Er macht schön, was nicht schön war, und bringt zum Glühen, was bereits glühte. Weit entfernt, uns eine Zuflucht zu bieten, zwingt er uns zur Hellsicht, indem er uns die Weisheit schenkt, die Dinge zu akzeptieren, und unsere Freude an der condition humana steigert.“
Eric spielt zwar weiter Klavier, doch wird das Schreiben zu seiner Passion und er schreibt auf die Art und Weise, wie Madame Pylinska ihm das Klavierspielen beigebracht hat:
„Ich schreibe, indem ich Feldblumen liebkose, ohne die Tautropfen zu zerstören. Ich schreibe, indem ich Kreise im Wasser produziere, um das ausbreiten der Wellen und ihr Verschwinden zu beobachten. … Und ich versuche so zu leben, indem ich jede Sekunde auskoste, die Melodie der Tage genieße und mich an jedem Ton erfreue.“
Im Grunde hat Madame Pylinska Eric gelehrt, wie Leben geht, genußvolles Leben, ein Leben in und mit Hingabe, mit Leidenschaft für das, was man tut, und der Fähigkeit, den Augenblick zu genießen und auszukosten. Die Geschichte hat an manchen Stellen schon fast märchenhafte Züge, die man diesem Schriftsteller aber abnimmt oder verzeiht, denn sonst mag man ihn nicht und auch seine Art, seine Themen zu erzählen. Ich finde er spricht eher die Herz- als die Verstandesebene an. Und man muss selbst wissen, ob man dort berührbar ist oder nicht.
Eric-Emmanuel Schmitt, Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin, mit Illustrationen von Daphne Patellis, a.d. Franz. v. Michael v. Killisch-Horn, C. Bertelsmann Verlag, München 2021, 96 S., ISBN 978-3-570-10403-3
Ein Gedanke zu „Eric-Emmanuel Schmitt, Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin“
Danke – wieder einmal – für den Lesetipp. Ich habe es mir bestellt. Meine Mutter spielt so gerne und oft Chopin auf ihrem Flügel…
liebe Sonntagsgrüße von Ellen