Irène Némirovsky, Pariser Symphonie

Irène Némirovsky, Pariser Symphonie

Das Nachwort habe ich zuerst gelesen. Die biografischen Angaben zu Irène Némirovksky haben mich neugierig gemacht auf ihre Geschichten.

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Die Autorin lebte als russische Jüdin in Paris, nachdem sie fünfzehnjährig mit ihren Eltern vor der russischen Revolution über Finnland und Schweden nach Frankreich geflohen ist. Dort erst hat sie, verheiratet und Mutter zweiter Töchter, mit dem Schreiben begonnen, das durch ihre Inhaftierung und Deportation jäh beendet worden ist. Den Töchtern erzählt sie, sie verreise nur für ein paar Tage. „Wir haben uns an einen alten russischen Brauch gehalten, nämlich zu schweigen, wenn ein Familienmitglied allein weggeht.“ Ihr Mann und ihre Kinder sehen sie nie wieder: Irène Némirovksky stirbt in Auschwitz-Birkenau an Entkräftung.

„Der Krieg löschte die Erinnerung an Irène Némirovksky aus“, bis ihre Töchter in der Lage waren, sich den Nachlass der Eltern anzusehen, der in einem alten Lederkoffer Platz fand. Anfang dieses Jahrhunderts wurde das Werk ihrer Mutter neu entdeckt. Im Manesse Verlag ist jetzt der Erzählband „Pariser Symphonie“ von Irène Némirovksky erschienen – versehen mit einem Lesebändchen – ergänzt mit einem aufschlussreichen Nachwort von Sandra Kegel,

Die unterschiedlich umfangreichen Erzählungen sind allesamt interessant, gewähren spannende Einblicke in menschliche Gemüter und Befindlichkeiten, zum Teil aus weiblicher Perspektive, manchmal erzählt in an einen Film erinnernde Schnitttechnik. Alle hallen sie – aufgrund ihrer Dichte – in einem nach. Sätze wie: „Die Zeit macht uns hart; sie lässt uns in einer Haltung erstarren, die zunächst vielleicht nur die f
Folge eines Zufalls war und keinesfalls einer Wahl oder einer zwingenden inneren Notwendigkeit entsprang.“ kann man meines Erachtens nicht so einfach überlesen. Sie provozieren und verlangen nach einer eigenen Positionierung, ähnlich der berühmten Gretchenfrage in Goethes Faust. Mich hat am meisten „Die Angst“, die kürzeste Erzählung, beeindruckt. Auf nur drei (!) Seiten erzählt sie die Geschichte eines Dorfes und zweier befreundeter Männer, die 1914 in der gleichen Einheit gekämpft haben.

„Die Nacht war so schön, so transparent, dass die Bewohner des Dorfes nicht schlafen konnten. Vom nahen Wald zog der Duft von Erdbeeren herüber. Im Herzen waren die Menschen traurig: Es war Krieg. Das Dorf bangte um seine abwesenden Söhne. Schlechte Nachrichten trafen ein. Die Männer murmelten:“Das wird noch länger gehen …“
So beginnt die Erzählung, die dramatisch endet. Und nur der Leser erfährt, was sich in der Zwischenzeit bis zum Morgen ereignet hat. Die Dorfbewohner kennen nur den Ausgang, das Ergebnis:

„Am Morgen fand man die beiden Leichen, die von Voillot ausgestreckt im Gras, die von Péraudin am Ast einer Ulme hängend.“

Ich werde mich nach der Lektüre dieser sehr lesenswerten Erzählungen auf die Suche nach weiteren Werken dieser Autorin machen, die für mich eine interessante Entdeckung ist.

Irène Némirovksky, Pariser Symphonie, Erzählungen, a.d. Französichen v. Susanne Röckel, Nachwort v. Dandra Kegel, Manesse Verlag Zürich 2016, Insgesamt 223 S., ISBN 978-3-7175-2412-0

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