Karl Ove Knausgård, Aus der Welt

„Aus der Welt“ ist der bereits 1998 erschiene Debütroman von Karl Ove Knausgård, der jetzt erst in deutscher Übersetzung vorliegt. Eine schwere Lektüre, im wahrsten Sinne des Wortes, die 925 S. wiegen 1040 Gr.,
– gemessen auf meiner nicht geeichten Küchenwaage. Aber auch im übertragenen Sinne kein Leichtgewicht.
Der junge Henrik Vankel ist Aushilfslehrer an einer Schule im hohen Norden Norwegens. Schon der Romanbeginn macht deutlich, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt, er Welt nicht einfach wahrnimmt, wie sie ist, sondern mit sehr viel Phantasie, eigenen Gedanken überlagert und offensichtlich mit sich arge Probleme hat. Sein Selbstwertgefühl ist nicht sonderlich ausgeprägt, er glaubt, die anderen hielten ihn für „das personifiziert Unangenehme“ und auch mit seiner Rolle als Lehrer scheint er so seine Probleme zu haben :
„Manchmal schloss ich nachts die Schule auf, ging durch das flache unbeleuchtete Gebäude, betätigte dabei einen Lichtschalter nach dem anderen und sah, wie das Licht die Dunkelheit über mir aufriss, als wäre ein Schwarm schlummernder Insekten geweckt worden und schwärmte nun gereizt in die Räume aus.“
Dann betritt er seinen Klassenraum und zieht Schubladen seiner SchülerInnen auf, nimmt sich „Regal für Regal vor, um zu schauen, ob sie irgendetwas von Bedeutung hinterlassen hatten, persönliche Gegenstände, irgendetwas: eine rührende Zeichnung, ein vergessenes Tagebuch, eine versteckte Liebeserklärung – kleine Zeichen, die mir etwas mitteilten, was ich nicht wusste, oder etwas, in mit auslösen mochten. Zärtlichkeit vielleicht, Vertrautheit.“
Er, der offensichtlich Schwierigkeiten hat, überhaupt mit Menschen in Kontakt zu kommen, verliebt sich in Miriam, eine seiner Schülerinnen. Sie ist erst dreizehn Jahre alt. Er will sie haben. Immer wieder taucht dieser Satz auf, obwohl Henrik genau weiß, dass diese Zuneigung eine verbotene ist.
In seitenlangen Gedankengängen versucht er sich klar darüber zu werden, „wie ich mich Miriam gegenüber verhalten sollte und wie ich in den Griff bekommen konnte, was mit mir geschah.“ Doch diese Grübeleien steigern nur seine Lust, seine Begierden und Phantasiebilder, in deren er Miriam nackt vor sich liegen sieht und sie überall berührt. Und er redet sich – wie viele Pädophilen ein – dass sie dass sicher auch so will.
„Sie wollte gern in seiner Nähe sein, sitzen, wo er immer saß, die Dinge ansehen, die er immer ansah.“ Aber genau das ist es, was er will, immer schon wollte, wenn er ein Mädchen mochte, aber nicht weiß, wie er mit ihnen in Kontakt kommen kann. Er wird zum Stalker.
Letztendlich schläft er mit Miriam. Weil es auffliegen könnte, verlässt er fluchtartig die Stadt in Richtung seiner alten Heimat. Dort wird er durch alles mit seiner unverarbeiteten, verdrängten Vergangenheit und der seiner Familie konfrontiert.
Henrik ist – wie offensichtlich auch die anderen Familienmitglieder – ein Meister im Verdrängen. Lügen, Verdrängen, Verschieben der Wahrheit, Phantasien, Fliehen in Alkohol und Schlaf, in (Tag-)Träume, bei denen er selbst oft nicht weiß, was davon nun Traum oder Realität ist, Ausflüge in historische Abhandlungen, in die Literaturgeschichte des 18. u. 19 Jahrhunderts, das Befassten mit Persönlichkeiten der Weltgeschichte sind seine Möglichkeiten, in seine eigene Welt ein wenig Ruhe zu bringen. Denn mit sich selbst hält er es nicht wirklich aus.
Daraus ergibt sich ein Roman, der nur auf der Oberfläche eine linear erzählte Handlung hat. Darin eingeflochten sind viele Sub- oder Intertexte, gepart mit mehrfachen Wechseln der Erzähler, der Erzählperspektiven und Realitätseben. Eine echte Herausforderung der Leser*Innen, der sich immer wieder neu orientieren müssen. Manche Passagen sind zunächst verwirrend, bis sie dann aus der Logik von Henrik Vankel doch noch stimmig werden. Das erschließt sich allerdings nicht immer von selbst. Es ist Lese- und Gedankenarbeit.
Knausgård schafft es allerdings, den Leser bis zum Ende hin „bei der Stange“ zu halten, denn der Roman hat auch einen Hauch von Krimi an sich, und man fragt sich als Leser zum Schluss immer mehr: Geht es gut oder fliegt der Protagonist doch noch auf, weil sein Lügengespinst letztendlich nicht tragfähig ist?
Karl Ove Knausgård, Aus der Welt. Roman. Aus dem Norwegischen v. Paul Berf, Luchterhand Verlag, MÜNCHEN 2020, 925 S., ISBN 978-3-630-87437-1