
Michael Bordt SJ, Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen

Der Titel ist ein wenig reißerisch. Der Untertitel „Vom Mut zum selbstbestimmten Leben“ gibt eher den Inhalt dieses kleinen Büchleins wieder, in dem es um einen sinnvollen, kreativen Umgang mit Enttäuschungen geht. Dass der Autor bei der Beziehung mit den Eltern beginnt, ist allerdings verständlich, ist sie doch in der Regel die erste und wichtigste eines jedes Menschen.
Und er ist zutiefst davon überzeugt:
„Nur wer mit seinen Eltern seinen Frieden gefunden hat, kann innerlich ein freier Mensch werden. Frei, indem er das, was er fühlt, tut und denkt, nicht mehr auf seine Eltern beziehen muss. Er kann sie sein lassen wie sie sind. … Und solange ich mich an den Eltern abarbeite, habe ich noch nicht ins eigene Leben gefunden.“
Er beschreibt gut nachvollziehbar, was Enttäuschungen sind, wie es dazukommen kann, welche Gefühle Enttäuschungen auslösen, wie man sinnvoll und nicht zerstörerisch mit Enttäuschungen umgehen und sie nutzen kann, um oft unbewussten eigenen Glaubenssätzen, aber auch Sehnsüchten und Wünschen auf den Grund zu gehen. Denn dann kann man selbstbestimmt im eigenen Leben dafür sorgen, dass destruktive Glaubenssätze und die damit verbundenen negativen Dynamiken unwirksam werden und durch eigene Ziele ersetzt werden können:
„Mein Interesse gilt dabei den verschlungenen Dynamiken, die mit Enttäuschungen verbunden sind. Es gilt unserer Haltung den Enttäuschungen gegenüber, denn ohne eine ernste Auseinandersetzung damit handeln wir schell aktionistisch.“
In der Beziehung zu den Eltern kann man dann die Kunst zu einer Meisterdisziplin machen, da in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern Erwartungen eine „Quelle besonders anstrengender Konflikte“ sein können, vor allem, wenn diese Erwartungen
„moralisch aufgeladen werden, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. Es ist dann nicht nur der Wunsch der Eltern, dass wir sie regelmäßig besuchen, sondern ihre Überzeugung, es sei unsere Pflicht und Schuldigkeit als Kinder in dauerndem Kontakt mit ihnen zu stehen und uns um sie zu kümmern. Tun wir das nicht, werden uns moralische Vorhaltungen gemacht: Wir sollen uns schlecht fühlen oder sogar Schuldgefühle bekommen. Man empört sich über uns. … vielleicht wirken Geschwister oder Freunde daran mit, indem sie unser Verhalten bewerten. Das fällt oft auf fruchtbaren Boden, denn viele Menschen sind so erzogen worden, dass ihr erster Impuls sein wird, den Ansprüchen der Eltern entsprechen zu wollen.“
Sich mit moralisch aufgeladenen Erwartungen auseinanderzusetzen – vor allem mit den damit verbundenen Enttäuschungen und Konsequenzen auf Seiten der Eltern – bedeutet, eigene Standpunkte, Positionen, Werte zu finden und sich selbstbestimmt und authentisch zu zeigen.
Dieser Weg ist die Voraussetzung mit den eigenen Eltern eine Beziehung auf Augenhöhe zu entwickeln und letztendlich auch zu den eigenen Kindern, sollte man selbst inzwischen Vater oder Mutter sein. Es sind oft (lebens-)lange Prozesse, und auch nicht immer „erfolgreich“:
„Mit seinen Eltern den Frieden gefunden zu haben, schließt nicht notwendigerweise mit ein, dass man im äußeren Leben ihre Nähe sucht oder es richtig findet, ihren Erwartungen zu entsprechen. Im Extremfall kann es auch bedeuten, die Beziehung zu ihnen abzubrechen, weil man es falsch findet, sich oder die eigene Familie ihnen auszusetzen. Dieser äußeren Grenzziehung darf aber keine innere entsprechen.“
Michael Bordt ist davon überzeugt:
„Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen, ist … die Meisterdisziplin im Umgang mit Verletzungen und Enttäuschungen. Und deswegen gilt: Wer sich mit seinen Eltern innerlich versöhnt, ist in den allermeisten Fällen auch anderen gegenüber ein freier, versöhnter Mensch.“
Michael Bordt SJ, Die Kunst die Eltern zu enttäuschen. Vom Mut zum selbstbestimmten Leben, 5. Auflage München 2019, 95 S., ISBN 978-3-945543-39-9