Theodor Storm, Ein Doppelgänger
Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ ist vom 1. Oktober bis 15. Dezember 1886 in sechs Fortsetzungen in der Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ erschienen. Die Büchergilde Gutenberg hat sie jetzt als eine von Sophie Nicklas illustrierte Ausgabe im „Leinenkleid“ mit farbig passendem blauen Lesebändchen herausgegeben.
Die Rahmenhandlung der Geschichte spielt im Sommer und wird von einem Advokaten erzählt, der sich in das Fremdenbuch eines Gasthauses eingeschrieben hat und dort auch den Oberförster kennenlernt, „ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, mit kurzgeschorenen, schon ergrautem Haupthaar; über dem Vollbart schauten ein paar freundliche Augen, und ein leichter Humor, der bald in seinen Worten spielte, zeugte von der Behaglichkeit seines inneren Menschen.“
Den Förster erinnert die Sprachmelodie des Fremden an die seiner Frau Christine. Er lädt ihn ein, sie beide im Forsthaus zu besuchen. „Darf ich Sie bei meiner lieben Alten als unseren Gast auf ein paar Tage anmelden?“
Bei diesem Besuch stellt sich heraus, dass der Advokat und die Frau des Försters aus demselben Ort stammen. Gleichwohl scheinen sie sich nicht zu kennen bzw. nichts voneinander zu wissen, was wegen der Größe des Ortes kaum vorstellbar ist. Als der Advokat jedoch vom Oberförster erfährt, dass Christines Vater neben John Hansen einen zweiten Namen hatte: John Glückstadt, nach dem Namen einer Zuchthausanstalt, beginnt er sich an John Glückstadt und sein bitteres Schicksal zu erinnern.
Er hat nun die Möglichkeit zu verstehen, dass Christine das Gefühl hat, zwei Väter gehabt zu haben: einen vor und einen nach dem Tod ihrer Mutter, was tatsächlich aber nicht der Fall sein kann. Er erzählt (als Binnengeschichte) dem Förster vom wechselhaften und letztendlich unglücklichen Leben des John Glückstadt, für das nicht wenige Menschen des Ortes mit verantwortlich gewesen sind, weil sie ihm als ehemaligem Zuchthäusler kaum Chancen gegeben haben, in dem Dorf wieder Fuß zu fassen und auf ehrliche Art und Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach dieser Schilderung bittet der Oberförster den Advokaten inständig, seiner Frau nichts davon zu erzählen. Und dieser entspricht dieser Bitten, obwohl:
„Es brannte mich, meiner edlen Wirtin zuzurufen:’Laß das Gespenst in deinem Haupte fahren; der Spuk und dein geliebter Vater, sie sind nur eines: er war ein Mensch, er irrte und hat gelitten!'“
In einem späteren Brief allerdings teilt ihm der Oberförster mit, er habe seiner Frau doch die Geschichte ihres Vaters erzählt:
„Zwar ein leidenschaftlicher Tränensturz war die erste Folge, so daß ich schier erschrak … . Aber ihr eigenstes Ich erschien bald wieder; … seine Tochter hat jetzt mehr an ihm; nicht nur den Vater, sondern einen ganzen Menschen.“
Sophie Nicklas hat mit der Illustration dieser Novelle den Gestalterpreis 2018 der Büchergilde Gutenberg bekommen. In einem Nachwort erklärt sie ihre Sicht auf die Novelle:
„Dann begann ich aber, mehr und mehr zu stutzen. Einiges stimmt nicht mit dieser Geschichte. … Entweder ist das schief und bieder erzählt – oder einfach großartig.“ Sie hat sich zunehmend als Teil eines „großen Erzählspiels“ mit verschiedenen Symbolen und Perspektiven gefühlt und „naiv abgebildet, Perspektiven übernommen – und sie manchmal überbetont.“ Das Zusammenspiel von Text und Illustrationen kann sich sehen, betrachten und gut lesen lassen.
Die Thematik, ob jemand nach einem Fehltritt im Leben noch einmal eine Chance bekommt, ist nach wie vor aktuell, so traditionell oder konventionell die Novelle auch erzählt ist.
Ich finde das manchmal herzerfrischend und unterhaltsam.
Theodor Storm, Ein Doppelgänger, illustriert von Sophie Nicklas, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/ M. 2018, 123 S., ISBN 978-3-7632-7030-9