Wolfram Fleischhauer, Schule der Lügen

Wolfram Fleischhauer, Schule der Lügen

„Übermorgen hier. Ich erwarte Sie!“
Mit diesem Zettel, in einer Transvestitenbar in Berlin überreicht von Alina, einer exotischen Schönheit, beginnt für den Chemiestudent Edgar von Rabov, Sohn eines Hamburger Fabrikanten, eine Beziehung, die sein bisheriges Leben und das seiner Familie bis in die Grundfesten der Existenz erschüttert.
Dieser Roman erzählt aber nicht nur die Geschichte dieser ver-rückten Beziehung und die damit verbundene Geschichte der Familie Edgars, sondern darüber hinaus den Beginn und die Entwicklung der ersten Esoterikbewegungen in Europa zu Beginn des 20igsten Jahrunderts und der unsäglichen Verknüpfung mit der aufkommenden Nazimythologie, die bereits zu Beginn ihre spätere politische Dimensionen und die Brutalität ihrer Anhänger mit Andersdenkenen erahnen lässt.
Dabei schafft es Fleischhauer einen außerordentlich gut und spannend erzählten, mehrere Handlungsstränge und Zeitebenen miteinander verknüpfenden Roman zu schreiben, den man ungern aus der Hand legt, obgleich einige Passagen etwas langatmig sind. Ein Roman, der ein unglaubliches Spektrum an Themen vor dem Leser ausbreitet, teilweise in Form von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen der beteiligten Charaktere, die über Gott und die Welt, alte und neue Werte, über Religion, Sekten und  das vorherrschende Frauen- und Männerbild der Epoche sinnieren und das oft auf drastische Art und Weise, etwa wenn Leonie, eine adelige, freitheitsliebende junge Frau, über Prostituion in und außerhalb der Ehe sinniert: „Und ist, solange die Frau keine Möglichkeit hat, ihr Leben wirtschaflich autonom zu gestalten, nicht ohnehin jede Situation der Frau die einer Prostituierten? Wie viele geachtete Frauen leben in ihrer Ehe vollständig das Leben einer Dirne, mit dem einzigen Unterschied, daß es nur ein Mann ist, dem sich sich tagtäglich ohne Liebe, ohne Sinnlichkeit hingeben und der sie dafür versorgen muß.“ Wie aber eine adelige Familie auf eine Frau reagiert, die Freiheit in jeder Hinsicht für sich in Aspruch nimmt, das erfährt der Leser im Verlauf des Romans, der eine Mischung aus Krimi, Familiensaga und Bildungsroman ist. Denn Edgar, den seine Recherchen bis nach Indien führen, ist zunehmend bewusster auch auf der Suche nach sich selbst.

Wolfram Fleischhauer, Schule der Lügen, München 2008, 521 S., ISBN 978-3-492-25159-4

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