Ulla Hahn, Aufbruch

Ulla Hahn, Aufbruch

Dieser Roman setzt da ein, wo „Das verborgene Wort“ aufhört. Er erzählt die Geschichte der Hilla Palm, die gegen den Willen der Eltern, mit Unterstützung von Autoritätspersonen wie dem Lehrer und Pfarrer des Dorfes, das Gymnasium besucht, mit dem Ziel, ein sehr gutes Abitur zu machen, um dann mit einem Stipendium studieren zu können, auch wenn sie damit den Traum ihrer Mutter vom Leben der Tochter platzen lässt. Diese hat für sie „den Traum einer Kinderschwester geträumt …, den Traum mit einer Heirat mit einem staatse Kääl, Peter Bender, der jet an de Föß hätt.“ Aber Hilla will lernen, sich die Welt der Wörter, der Freiheit, des eigenen Denkens erschließen und eckt immer wieder in ihrer Umgebung an, wird mit dem Vorwurf konfrontiert, sich für was Besseres zu halten.
Deutsch fällt ihr nicht schwer, vor allem weil Studienrat Dr. Werner Rebmann sie und ihre Mitschüler(innen) zum eigenständigen Denken auffordert und sie animiert, sich klar zu machen, was die jeweilige Lektüre ihnen persönlich zu sagen hat. „Lesen sollte zum Denken führen.“ Und denken, mit Wörtern umgehen, das kann Hilla und endlich findet sie Anerkennung. Mathematik dagegen ist ihr ein Buch mit sieben Siegeln, doch  hier beißt sie sich durch, ihr Ziel immer vor Augen. Sie lernt einen Studenten aus sehr gutem Hause kennen, der sich offensichtlich für sie interessiert. Sie liest Benimmbücher, um sich in seinen Kreisen bewegen zu können. Doch schon bald bezeichnet sie Godehard, der sie mit Geschenken überhäuft, als seine kleine Frau. Sie bricht mit ihm, weil sie sich nicht vereinnahmen lassen will, ist wieder allein, fühlt sich oft abseits, will aber dazugehören und erfindet einfach einen Freund, den sie während der – auch erfundenen Reise in den Sommerferien- kennengelernt hat. Geschichten, Phantasien ersetzen ihr oft die Wirklichkeit, ergänzen sie, sind ihr Hilfe. Bis sie dann eines Tages durch ein Ereignis dermaßen traumatisiert wird, dass sie die Sprache der Literatur, der Gefühle, der Phantasie meidet, und sich nach einem völligen Zusammenbruch in die Sprache der Fakten, des Wissens flüchtet. Sie schafft ihr Abitur und mit Hilfe von unerwarteter Seite kann sie dann sogar in einem Studentenwohnheim in Köln wohnen und studieren.
Es ist ein inhaltlich und sprachlich gewaltiger Roman, der die Liebe zur Sprache und zum Wort, die Fabulierkunst und -lust sowohl der Autorin als auch der Protagonistin widerspiegelt, was manchmal zu inhaltlichen Längen führt und zu Wortaneinanderreihungen, die eine Herausforderung an die Aufmerksamkeit des Lesers sind. Denn als Hildegard dann studiert, bekommt man auch die neu gelernte wissenschaftliche Nomenklatur präsentiert. Es ist ein Roman, der nicht nur die Entwicklung von Hildegard schildert, sondern gleichzeitig die Entwicklung der Bundesrepublik Mitte der Sechziger des 20. Jahrhunderts. Ich habe vieles wiedererkannt, auch wenn ich nicht im katholischen Rheinland sondern im Ruhrgebiet aufgewachsen bin. Ein äußerst lesenswerter Roman für literarisch interessierte Leser, die über  Zeit und Geduld verfügen.

Ulla Hahn, Aufbruch, Roman, München 2009, 587 S., ISBN 978-3-421-04263-7

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