Christine Bilkau, Eine Liebe in Gedanken

Christine Bilkau, Eine Liebe in Gedanken

„‚Wer hat mich gefunden? Wie sah ich aus?“
Meine Mutter sitzt vor mir auf der Küchenbank, sie bestreicht sich ein Stück Baguette mit zerschmolzenem Camembert, sie sitzt, wie immer, wenn sie uns besuchte, auf dieser alten Holzbank, die Florian und ich als Studenten, vor über zwanzig Jahren auf einer Reise durch Polen gekauft hatten, sie nippt an ihrem Darjeeling und will alles über ihren Tod wissen.“
„War mein Anblick eine Zumutung für dich?'“


Dieser lesenswerte, spannende Roman wird erzählt von der Tochter Antonias. Antonia ist gerade gestorben und ihre Tochter ist dabei, die Wohnung ihrer Mutter aufzulösen. Sie lässt sich viel Zeit damit.

Gegenstände wie Fotos, Schallplatten, Notizen in Büchern, alte Briefe helfen ihr, das Leben ihrer Mutter Revue passieren zu lassen. In inneren Monologen, in Dialogen mit der Mutter, anhand von Aufzeichnungen erinnert sie sich an gemeinsame Tage, an die Großmutter und die Erzählungen der Mutter über ihre Kindheit, ihre erste Anstellung und ihre Liebe zu Edgar, dem sie nach Hongkong folgen wollte und dafür alles aufgegeben hatte, was ihr wichtig war: ihre Anstellung und damit auch ihre finanzielle Unabhängigkeit, die ihr so wichtige Freiheit und ihre eigene Wohnung.

Immer wieder fragt sich die Erzählerin, was sie wirklich vom Leben ihrer Mutter weiß, deren Radius aufgrund einer Herzerkrankung stets kleiner geworden ist.
„Eines unserer letzten langen Telefonate. … Am Ende des Gesprächs sagt ich ihr, ich würde anfangen, mich vor dem Alter zu fürchten, vor dem Alleinsein. Ich rückte damit heraus, dass es mir schwerfiel zu sehen, wie sie an ihre Wohnung gebunden war, dass es mich bedrückte und mir Angst machte.
‚Du musst dir keine Sorgen machen‘, hatte sie zu mir gesagt, mit ihrer jungen zuversichtlichen Stimme. ‚Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben.'“

Schon sehr früh ist dem Leser klar, dass die Liebe zu Edgar kein happy end gehabt hat. Doch lange weiß man nicht, wieso. Diese Frage treibt einen gemeinsam mit der Tochter um, derweil man Einblick in Antonias Leben, in ihre so enge Welt in den 60iger Jahren bekommt, aus der sie sich – trotz der sehr einschränkenden, moralinsauren und ständig unzufriedenen Mutter – herausarbeitet und frei, unabhängig lebt, soweit das zu der Zeit als Frau möglich war, weitgehend ohne Kontakt zu Mutter und Geschwistern, die ihre Lebensweise nicht nachvollziehen und billigen können, dafür aber in freier Liebe zu Edgar.

Edgar hat das Haus seiner Eltern behalten und kommt jedes Jahr im Sommer dahin zurück. Antonia hat ihre Spaziergänge immer wieder an diesem Haus vorbei gemacht, in dem auch sie eine Zeit lang gewohnt und auf das Ticket von Edgar gewartet hat. Bei einem Treffen mit ihm nach Jahrzehnten hofft sie eine Antwort auf die Frage zu bekommen, warum er ihr das Ticket nie geschickt hat, aber auch keine Erklärung. Er bleibt ihr die Antwort zeitlebens schuldig.

Nach Antonias Tod versucht es die Tochter noch einmal.

Es ist ein berührender, nie kitschiger Roman über das Leben einer Frau, die – aus der Sicht der damaligen Gesellschaft – an ihrer Liebe, an ihren Träumen und Hoffnungen gescheitert ist. Die sich letztendlich aber treu geblieben ist. Wirklich lesenswert!

Kristine Bilkau, Eine Liebe in Gedanken, Roman, Luchterhand Verlag, München 2018, 253 S., ISBN 978-3-630-87518-7

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