Sorj Chalandon, Am Tag davor

Der Roman beginnt – dem Titel entsprechend – mit dem Tag davor, d.h. mit dem Tag vor der Katastrophe, einem Grubenunglück im Bergwerk von Liévin, der Heimatstadt des Ich-Erzählers Michel Delanet. An diesem Tag lässt ihn sein größerer Bruder Joseph das Motorrad lenken, mit denen die beiden übermütig durch die nächtlichen, vereisten Straßen fahren.
„Ich war Michel Delanet. An der Spitze des Grand Prix von Monaco, in er Kurve von Beau Rivage. Die Gässchen, die Höfchen, die kläglichen Gärtchen, die Wurfortsätze der Sackgassen, die endlosen Backsteinmauern, palisaden, Zäune, geschlossenen Fensterläden, alles hallte wider von unserer Kraft. …’Du schau auf die Straße, Pochjungchen!‘ Dann lachte er. Sein schönes Groß-Bruder-Lachen.“
Am nächsten Tag passiert das Grubenunglück, bei dem 42 Bergleute ums Leben kommen, mit verheerenden Folgen auch für die nahen Angehörigen. Michels Bruder stirbt Tage später im Krankenhaus. Sein Name steht nicht auf der Gedenktafel für die Verunglückten. Für Michel eine himmelschreiende, nicht zu verstehende Ungerechtigkeit. Für ihn ist sein Bruder ebenfalls ein Opfer, sein Name gehört auf die Tafel.
Ihn zu rächen, auch im Namen seines Vaters, der sich nicht lange nach dem Tod seines Ältesten in der Scheune seines kleinen Bauernhofes erhängt, wird für Michel Zeit seines Lebens zum treibenden Motor.
Der Roman erzählt in schlichter Sprache – stets aus der Perspektive Michels – zunächst dessen Leben und das seiner Familie, die eher aus bäuerlichen Verhältnissen kommt, den ältesten Sohn dann aber an die Zeche verliert. Gleichzeitig stellt der Roman die allgemeine Bedeutung und Zustände der damaligen Zechen mit ihren ausbeuterischen Arbeitsbedingungen auf der einen Seite und die Solidarität der Kumpel auf der anderen Seite dar. Die Zechen prägten das komplette Leben.
Nach dem Tod seiner Frau, mit der Michel in Paris gelebt hat, kehrt er zurück in seine Heimat und plant die Ermordung desjenigen, den er für schuldig am Tod seines Bruders hält: Lucien Dravelles. Er sucht und findet ihn, alt gebrechlich, an einer Staublunge leidend und im Rollstuhl sitzend.
Der Roman nimmt eine äußerst ungewöhnliche Wendung, fast wie ein Donnerschlag, dem weitere Wendungen folgen. Sie halten den Leser in Atem. Das Thema Schuld wird in seinen verschieden Schattierungen und Möglichkeiten deutlich, je nachdem, wer darüber spricht. Interessant, spannend, vielschichtig und nie langweilig. Sehr lesenswert, nicht nur für Ruhrpöttler wie mich, die ich an vielen Stellen, vor allem durch Begriffe, an die eigene Kindheit erinnert worden bin.
Sorj Chanlandon, Am Tag davor, Roman a.d. Französischen v. Brigitte Große, dtv Verlag, München 2019, 316 S., ISBN 978-3-423-28169-0